Sieh da, die Kraniche! Jetzt ziehen sie wieder aus Skandinavien und dem Baltikum zu ihren Brutplätzen trompetend durch die Lüfte. Friedrich Schiller hat „Die Kraniche des Ibykus“ in seinem Musen-Almanach bedichtet, erschienen in Tübingen bei J. G. Cotta, 1798. Ibykus, der Götterfreund und Liedermacher, wandert durch Korinth. „Nichts regt sich um ihn her, nur Schwärme/ Von Kranichen begleiten ihn,/ Die fernhin nach des Südens Wärme/ In graulichtem Geschwader ziehn.“ Arglos grüßt Ibykus sie als Gefährten: „Zum guten Zeichen nehm ich euch,/ Mein Los ist dem euren gleich.“ Ahnt Ibykus, dass er schon wenige Verse später tot sein wird, ermordet in den Wäldern?

Heute teilen die Kraniche selbst das Los des Ibykus. Zu Tausenden sterben sie an H5N1, am Vogelgrippevirus. Sie taumeln vom Himmel und verenden auf den Feldern, wo sie sonst gelandet wären, um auf ihrem Zug zu rasten und zur Balz zu tanzen. Niemand kann sich an solche apokalyptischen Bilder erinnern: Kranichleichenberge in der deutschen Tiefebene, der griechische Glücks- und Göttervogel als Memento mori. Wild- und Wasservögel infizieren sich, Geflügel wird gekeult oder in Ställen weggesperrt. Der Weihnachtsfestbraten ist in Gefahr.

Wahrscheinlich stammt der Stamm des Virus mit der Unternummer 2.3.4.4b aus Asien, also dorther, wo der große graue Vogel mit der roten Kappe heilig ist. In China fliegen die Verstorbenen auf Kranichen ins Himmelreich. In Japan werden Origami-Kraniche gefaltet, mit den besten Wünschen, um das Böse fernzuhalten wie am Mahnmal des Atomkriegs in Hiroshima – oder einfach nur für ein langes Leben.

Menschen lieben Kraniche. Wenn sie nach ihrer Heimat streben (Goethe) und aus einem Leben in ein anderes ziehen (Brecht), von Hühnern ausgelacht werden, wenn sie verletzt sind und nicht fliegen können (Fontane) und – „Wer zählt die Völker, nennt die Namen“ – als Gesandte einer höheren Macht bejubelt werden (Schiller): „Sieh da! Sieh da, Timotheus,/ Die Kraniche des Ibykus! –/ Und finster wird plötzlich der Himmel,/ Und über dem Theater hin/ Sieht man, in schwärzlichem Gewimmel,/ Ein Kranichheer vorüberziehn.“

Bei Schiller sind sie die Boten des Todes. Sie künden vom Mord an einem guten Mann, an einem Musikanten namens Ibykus. Die Täter werden überführt, verurteilt und bestraft. Als Klassiker zu Lebzeiten verband der Dichter die Motive der Antike (Rache) sowie seiner Zeit (Moral). Das Wahre, Schöne, Gute aller Künste überwältigte und überwand das Falsche, Böse und Gemeine. Dass auch Kraniche nicht nur als Götter um die Welt fliegen, sondern auch als gefallene Engel, wusste schon Homer, der alte Grieche. In seiner „Ilias“ zogen sie aus den skythischen Ebenen über das Meer nach Süden in die Nilsümpfe Ägyptens, um Pygmäen, Zwergmenschen, zu töten und zu fressen. Aber was wussten Homer und Schiller schon von Viren?

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