Nelly Furtado möchte einfach nur Musik machen. Doch neben Applaus kassiert sie auch viel Häme wegen ihrer Figur. Warum ist es 2025 immer noch ein Skandal, wenn eine Frau altert und ein paar Kilo zunimmt? Die Promikolumne über Bodyshaming, und darüber, wie gnadenlos wir geworden sind.

Sommer. Mitte der Neunzigerjahre. Party. Ich sitze an einem Biergartentisch, trinke ein Glas Sangria (was definitiv ein Fehler war) und schaue meinen Freundinnen beim Tanzen zu. Ein Typ, den ich vom Sehen kenne, setzt sich neben mich, und wir plaudern ein bisschen, flirten. Und irgendwann im Laufe dieses Gesprächs sagt mir der Typ, er fände, ich habe ein sehr süßes Gesicht, aber leider sei ich ihm zu fett.

Okay, ich war zu diesem Zeitpunkt nicht gertenschlank, aber ich würde nicht behaupten, dass man mit 60 Kilo auf der Waage "zu fett" ist. Jedenfalls, und das muss ich Ihnen, lieber Leser, ja gewiss nicht erzählen, sind derlei Sprüche oft der Anfang dafür, dass Frauen, gerade junge Frauen, noch unsicherer werden als ohnehin schon. Ich möchte das jetzt gar nicht weiter vertiefen. Es sind Verletzungen, die sich tief ins Gedächtnis eingraben - und die Frauen leider immer wieder in jedem Alter treffen können.

Und deswegen möchte ich in der heutigen Ausgabe sehr gerne mit Ihnen über Nelly Furtado sprechen. Sie wissen schon, diese Sängerin, die mit dem Song "I'm Like a Bird" Anfang der 2000er auf einer kleinen Bühne in Toronto stand und sich in den Pop-Olymp sang.

Und jetzt, ein Vierteljahrhundert später, hat die Frau es tatsächlich gewagt, nicht mehr 21, sondern 46 Jahre alt und Mutter zu sein. Ihre Besenreiser, so sagt sie, erinnern sie an das Leben. Und siehe da: Nelly hat sich auch optisch verändert. How dare she? Ihre Figur: eine andere als damals. Skandal!

"Hat sie ihre Männer gegessen?"

Nach ihrer Karriere hatte sich Furtado von den großen Bühnen zurückgezogen und unter anderem eine Familie gegründet. Zwischen ihren letzten beiden Alben liegen sieben Jahre. Umso schöner war es also, als sie im vergangenen Jahr auf die Bühnen dieser Welt zurückkehrte. Doch nun, nur ein Jahr später, macht sie wieder das, was die meisten tun, wenn ihnen das Publikum zu nah auf die Pelle beziehungsweise den Körper rückt: Sie zieht sich zurück und verkündet den Abschied von der Bühne. Nicht jedoch, weil sie keine Lust mehr hätte, sondern weil sie es satt hat, dass man statt über ihre Musik über ihren Körper spricht.

Die Kommentare sind - man kann das nicht anders sagen - unter aller Sau. Und das Schlimme ist: Es sind so viele, dass man sie nicht mehr zählen kann. In den Kommentarspalten unter ihren Auftritten sind regelrechte verbale Entgleisungen zu lesen. Die Leute kreisen kollektiv frei und versuchen sich sogar gegenseitig mit ihren hässlichen Sprüchen zu übertreffen: "Wie ein Vogel sieht sie nun wirklich nicht mehr aus." "Hat sie ihre Männer gegessen?"

Man kann sich fragen, wann genau wir angefangen haben, Künstlerinnen zu behandeln wie Vorher-Nachher-Bilder. Und wissen Sie was, lieber Leser? Es ist noch gar nicht so lange her, dass Medien begannen, Artikel zu bringen, die allesamt ähnliche Headlines haben und die nur aus einem Grund geschrieben werden: Klicks. Und tatsächlich geht es in diesen Artikeln fast immer um erfolgreiche Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen.

Hier nur ein paar von Millionen Beispielen:

"Madonna: So sieht die Sängerin nicht mehr aus!"
"So sah Veronica Ferres vor 30 Jahren aus: Hättest du sie erkannt?"
"Sophia Thomalla völlig verändert: So sieht sie nicht mehr aus!"
"Daniela Katzenberger: So sieht sie nicht mehr aus!"
"Natalia Wörner - So sah sie früher aus!"

Die Liste ist wirklich beliebig fortsetzbar. Und natürlich geht es auch manchmal um ein einfaches Umstyling oder eine neue Frisur, aber in den meisten Fällen geht es um die optischen Veränderungen einer Frau, die altert. Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis: Ich sehe nicht mehr aus wie 1995!

Ja, ich habe es tatsächlich gewagt, älter zu werden, Besenreiser und Falten zu kriegen, und obwohl ich (noch) keine grauen Haare habe, tun mir manchmal die Knochen weh, und ich fühle mich dann jedes Mal wie 150. Ein Alter, das ich leider nie erreichen werde, denn alt zu werden ist eines der größten Privilegien. Nur alt aussehen, das will niemand. Und das ist auch vollkommen legitim, wenn Frauen optisch nachhelfen, um sich in ihrer Haut wohlzufühlen. Nicht legitim ist es, wie die Gesellschaft mit Frauen umgeht, die altern!

"Ich habe Besenreiser"

Zurück zu Nelly. Da ist also diese wunderbare, 46 Jahre junge Künstlerin. Sie ist zurück, voller Energie. Sie kommt auf die Bühne, singt, tanzt - und das Erste, was kommentiert wird, ist ihr Bauchumfang. Gleichzeitig werden andere bejubelt, die sich Ozempic in den Oberschenkel jagen, als wäre das eine neue Sportdisziplin. Ich finde es vollkommen schizophren, dass wir jene feiern, deren Körperfülle auf Norm schrumpft, und die auslachen, die bleiben, wie sie sind. Als wären diese Frauen schwach und undiszipliniert. Oder schlimmer noch: zu faul, um sich aufs Laufrad zu stellen.

Dabei war Nelly Furtado nie die Sorte Popstar, die perfekt sein wollte. Sie war immer ein bisschen ungebügelt, zu echt für den Mainstream, mit portugiesischen Wurzeln, einem kanadischen Akzent und diesem kleinen Trotz in der Stimme. Nur scheint Echtheit inzwischen das Unästhetischste zu sein, was man haben kann.

Ihr Album "7" kam im Herbst 2024 raus. Und weil sie bei ihren Auftritten ein paar Kilo mehr trug als 2006, war plötzlich alles wichtiger als die Musik. Im August postete sie dann ein Foto: orangefarbener Bikini, ungeschminkt, ohne Filter. "Ich habe Besenreiser, und sie erinnern mich an meine Mutter und meine Tanten und ans Leben." Was für ein Statement. Ein kleines, warmes "Leckt mich".

Dass sie jetzt geht, ist deshalb umso trauriger. Denn wenn selbst eine Künstlerin, die über 50 Millionen Tonträger verkauft hat, sich vom Rampenlicht zurückzieht, weil sie dieses Gift aus Kommentaren, Likes und Urteilen nicht mehr erträgt, dann stimmt etwas grundsätzlich nicht mit uns. Nelly Furtado sagt, sie will sich anderen Projekten widmen. Sie bleibe Songwriterin und Musikerin, aber abseits der Bühne.

Eine Gesellschaft, die Frauen nur dann Respekt zollt, wenn sie aussehen wie die Schönheitschirurgie es ihnen verspricht und die Falten, Alter und Gewicht behandelt wie halbe Weltuntergänge, hat den Kontakt zu ihrer Realität verloren. Irgendwann werden wir in einer Welt leben, in der alles perfekt und nichts mehr echt ist.

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