Es ist nicht bekannt, dass es in Spanien in den vergangenen acht Jahren zu einem signifikanten Anstieg der Zahl der Banküberfälle gekommen wäre. Und auch die Fábrica Nacional de Moneda y Timbre in Madrid, wo die spanischen Banknoten gedruckt werden, ist bisher – anders als in den ersten beiden Staffeln der sagenhaft erfolgreichen Netflix-Serie „Haus des Geldes“ – noch von keiner seltsam maskierten Bande heimgesucht worden.
Um all jenen gleich von Anfang an die großen Verbrechensrosinen aus dem Kopf zu treiben, die sich vom neuen Berliner „Tatort“ intime Einblicke in die Sicherheitsvorkehrungen des deutschen ‚Haus des Geldes‘ erwarten, das preußisch und profan Bundesdruckerei (BDR) heißt, wird gleich zu Beginn darauf hingewiesen, dass alles, was sich während „Erika Mustermann“ im Innern der BDR abspielt, frei erfunden ist.
Die Abläufe sind andere, die Überwachungstechnik funktioniert anders. Keine Chance, was zu lernen also. Wer das erwartet hatte, kann an dieser Stelle aufhören zu lesen. Und kann am Sonntagabend „Traumschiff“ gucken oder was sonst im ZDF läuft.
Die Realitäten, von denen „Erika Mustermann“ handelt, sind andere. Es sind ziemlich viele. Aber das macht nichts. Torsten C. Fischers knallhart geradlinige, farbintensive, zwischentonreiche Inszenierung des Drehbuchs von Dagmar Gabler fädelt am Ende alles ein.
Nichts Schrilles ereignet sich in Berlin. Es gibt keinen Professor. Kein Experten-Team von Einbrechern. Eine sanfte Melancholie treibt das Spiel der Einsamkeiten und Abhängigkeiten voran. Dass am Ende alle Verlierer sind, steht schon fest, da ist Tomás Rey kaum überfahren worden, der für den Bringedienst „Cheetahs“ Essen durch die Hauptstadt radelte.
Vor allem in die Kommandantenstraße, wo 4000 Mitarbeiter BDR Pässe und Noten drucken und sich immer mehr Mahlzeiten liefern lassen. Eine Kantine scheint es nicht zu geben im deutschen Haus des Geldes. Auch das könnte eine freie Fantasie und damit von der Kunstfreiheit gedeckt sein.
Schon der Name ist verdächtig
Womit wir bei den Realitäten sind, für die sich „Erika Mustermann“ tatsächlich interessiert. Tomás Rey, der tote Lieferheld, liegt also unter den U-Bahngleisen. Blut fließt aus seinem Ohr. Ein toter Vogel hängt im Netz über ihm. Einen Ausweis hat er dabei, nach dem Tomás eigentlich Xavier Weberlein heißt.
Schon dieser Name ist verdächtig – dass Hannes Wegener ihn spielt auch, weil der überqualifiziert ist für eine Fünf-Minuten-Rolle. Wer offensichtlich verdächtig ist in diesem „Tatort“, das ist ein gewisses Manko in der Figurenentwicklung, ist es zu Recht.
Mit dem seit einem Jahr spurlos verschwundenen Ausweis von Weberlein hatten sich Tomás, sein Bruder Luis und ihr Freund Gabriel bei den Cheetahs verdingt. Wer für die fährt, ist denen furchtbar egal. Die Fahrer sind selbstständig, stellen Rechnungen, radeln auf eigene Verantwortung. Tomás und Luis und Gabriel teilen sich noch mehrere Jobs. Ihr Touristenvisum ist lange abgelaufen. Sie sind Papierlose.
Tomás hat sich für ihre prekäre Existenz an der Spree von einem Schlächter eine Niere entfernen lassen. In Caracas war das. Da kommen sie her. Da ist es – die neue venezolanische Friedensnobelpreisträgerin Maria Corina Machado ist Zeuge – grässlich. Millionen leben in Slums, gegen die jede Plattenbruchbude in Marzahn oder Neukölln ein Paradies ist. Tomás und Luis und Gabriel sind Wirtschaftsflüchtlinge.
Sie arbeiten hart, wo Deutsche nicht arbeiten wollen, sie schicken Geld nach Venezuela, sie ernähren ihre Familie. Alles besser als daheim. Wo die Mafia alle im Griff hat und das Kartell und der korrupte Staat den letzten Rest von Hoffnung auf Wohlstand, Aufstieg, auf ein lebenswertes Leben erstickt. Selten hat sich ein deutscher Fernsehfilm so warmherzig unter lateinamerikanischen Untergrundarbeitern in Deutschland umgetan.
Und dann ist da noch Annika Haupt (gespielt von Annett Sawallisch). Eine nicht mehr ganz junge Frau. Allein. Einsam. Sichert sich mit ihrer Tätigkeit im Sicherheitsdienst der BDR eine prekäre Existenz. Tomás hat ihr manchmal was gebracht. Cola, Buchstabensuppe. Dann hat er ihr auch was nach Hause gebracht. Dann haben sie zusammen gekocht. Dann ist er geblieben. Für sie war er immer Tomás aus Caracas. Sie hat ihm Deutsch beigebracht, er ihr Spanisch. Natürlich ist ihre Liebe verdächtig.
Liebe für Staatsbürgerschaft
Für Kommissar Karow, der gern den kaltschnäuzigen Zyniker gibt, der er gar nicht ist, und gleich den nächstliegenden Verdacht in den Raum stellt: alte Jungfer verschafft Latin Lover Staatsbürgerschaft. Für die Bundesdruckerei auch.
Auf Überwachungsvideos sieht man Tomás am Tag seines Todes mit einem leichten Packsack in die Druckerei gehen und mit einem offensichtlich zentnerschweren wieder heraus. Verschwunden ist nichts. Dass irgendwas geht im Haus der Pässe, ist klar – denn um die, nicht ums Geld dreht sich in „Erika Mustermann“ (das kann man schon am Titel ablesen) eigentlich alles.
Einmal leistet sich die zielstrebig verhandelte Geschichte einen ganz wunderbaren Moment. Springt zwischen Vereinsamten hin und her. Wir sehen Annika, wie sie in ihrer Wohnung mit dem toten herbeifantasierten Tomás im Arm tanzt; die Venezolaner, wie sie angstbesessen in ihren Betten ins Dunkel starren; Karow, wie er seine Kollegin Bonnard bewacht, die auf der Pritsche im Büro liegt; und Bonnard, wie sie den auf seinem Stuhl eingeschlafenen Karow in einer fast an Pietà-Bilder gemahnenden Szene mütterlich zudeckt.
„Erika Mustermann“ ist der vorletzte Fall für Corinna Harfouch und Mark Waschke. Man beginnt schon jetzt, sie zu vermissen. Sie haben sich eingespielt aufeinander. Sie behandeln sich, wie sich sonst kein „Tatort“-Team behandelt. Mit Respekt, aus einer Halbdistanz, sie wissen, was sie aneinander haben.
Und wieder haben sie sich in einen gesellschaftlichen Brennpunkt begeben. Und wieder haben sie überlebt, sind ohne Blessuren herausgekommen. Das ist eigentlich ein Wunder.
„Tatort: Erika Mustermann“ läuft am 2.11. um 20:15 Uhr in der ARD und Mediathek
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