Ferdinand Ries wurde nervös. Ende Mai wollte er die preußische Erstaufführung von Beethovens neunter Sinfonie dirigieren. Beim Niederrheinischen Musikfest in Aachen. Ries, Anfang Vierzig, europaweit gefeiert als Pianist, Komponist und musikalischer Strippenzieher, war dessen Direktor.
Vor 1500 Menschen sollte das Ereignis stattfinden. Mit 147 Musikern und 266 Sängern, doppelt so vielen wie bei der Uraufführung in Wien ein gutes Jahr zuvor. Leider waren die Noten noch nicht gedruckt. Zwei Monate vor dem Termin hatte Ries nicht mal die Hälfte der Partitur in Händen. Die Orchesterstimmen kamen und kamen nicht. Außerdem waren nicht alle Berufsmusiker in Aachen. Und das Werk war komplex und sehr anders.
Ries war selbst schuld. Er hatte die Sinfonie bei Beethoven bestellt. Da war er noch Direktor der Philharmonic Society in London. Sie hatten sich, hatte er dem „liebsten Beethoven“ 1818 geschrieben, „wie die Kinder“ auf den Meister, der nie aus Österreich herauskam, seit er aus Bonn in Wien angekommen war, gefreut in London. Doch es wurde nichts aus der Dienstfahrt von der Donau an die Themse.
Das Reisegeld immerhin hatte Beethoven einbehalten. Das kannte Ries schon. Das Problem mit der Saumseligkeit des Titanen und der problematischen Notenproduktion auch. Ries war selbst – gut zwanzig Jahre war das her – mal Kopist bei Beethoven gewesen. Und Chronist und Klavierschüler und Alltagsbeisteher und Umzugshelfer (alle halbe Jahre wechselte Beethoven die Wohnung, als wäre er auf der Flucht vor der Sesshaftigkeit).
In Aachen musste Ries, inzwischen selbst Verfasser von sieben Sinfonien und sieben Klavierkonzerten, irgendwann pragmatisch denken, da „an ein geordnetes Zusammenspiel“ unter diesen Umständen nicht zu denken war. Er strich den zweiten und die Hälfte des dritten Satzes. Beethoven fand das gar nicht lustig.
In Sachen Pragmatismus aber machte Ries niemand was vor. Er hatte sein Leben an die Zeitläufte anpassen müssen. Wofür vor allem einer verantwortlich zeichnete, der einmal Beethovens Leitstern war: Napoleon Bonaparte. Es waren kriegerische Zeiten in Europa. Und die Geschichte des Ferdinand Ries ist eine ziemlich aktuelle. Eine vom anschwellenden Militarismus und dem Versuch, sich ihm durch Flucht zu entziehen.
Ries, 1784 in Bonn geboren, Sohn des Geigenvirtuosen und Kapellmeisters der kurkölnischen Hofkapelle Franz Anton Ries, der Beethovens Bonner Geigenlehrer war, stand vor dem Nichts, als sich das längst legendäre kurfürstliche Orchester so wie der komplette Hofstaat auflöste. Er schlug sich als Orgel-Schüler in Arnsberg durch. Er ging nach München. 1803 kam er unter die Fittiche Beethovens, einer von zwei Klavierschülern des Exil-Bonners (der andere war Carl Czerny, den Klaviereleven für seine Etüden bis heute hassen). 1804 ließ Beethoven ihn sein drittes Klavierkonzert spielen und eine eigene Kadenz schreiben.
Kompositionslehrer von Ries war Johann Georg Albrechtsberger, der schon Beethoven im Tonsatz unterrichtete, aber überzeugt war, dass der „nie was Ordentliches machen“ werde. Dann begann es absurd zu werden. Als Bürger des französisch besetzten Bonn musste sich Ries in Koblenz der Musterung unterziehen. Er erwies sich als untauglich, blieb in Bonn, komponierte, die ersten Werke erschienen. Er ging – das hatte ihm sein ferner Meister geraten – nach Paris, wo er ein Katastrophenjahr erlebte. Er kehrte zurück nach Wien und floh, weil er eingezogen werden sollte, diesmal vom österreichischen Militär gegen die Franzosen, wieder ins heimische Rheinland, komponierte seine erste Sinfonie.
Dann ging er mit dem Cello-Virtuosen Bernhard Romberg, der in Bonn sein Lehrer gewesen war, auf große Konzerttournee nach Russland, wurde auf dem Weg in Stockholm gefeiert. Ries kam bis St. Petersburg. Dann rückte Napoleon auf Moskau vor. Bevor es zu brenzlig wurde, ging er zu Johann Peter Salomon. Der war Geiger im Bonner Hoforchester gewesen und Lehrer von Ries‘ Vater, bevor er legendär wurde als Impresario des bürgerlichen Londoner Musiklebens und schon Haydn an die Themse geholt hatte.
Ries wurde Modeklavierlehrer bei Bankern und Kaufleuten, Beethovens Botschafter im Königreich, Impresario, Familienvater und wohlhabend. Zerstritt sich aber irgendwann mit der Philharmonic Society, kaufte das Haus des Vaters in Bad Godesberg, in dessen Tanz- und Konzertsaal sich Haydn und Beethoven das erste Mal getroffen hatten. Zog weiter nach Frankfurt. Und war vergessen, noch bevor er – 53 Jahre alt – an derselben Krankheit wie Beethoven starb.
Dass sich das zumindest, was die acht Sinfonien angeht, die er neben gut 300 anderen Werken hinterließ, ändern muss, weiß man schon, da haben Janne Nisonen und die fabelhafte Tapiola Sinfonietta kaum angefangen mit der Ersten (erschienen bei Ondine). Und dann sitzt man da mit der Gesamteinspielung und suchtet sie durch wie „Breaking Bad“.
Ein achtstündiges Feuerwerk der seltsamsten, herrlichsten Raketen schießt durchs Zimmer. Der Haydn irrlichtert noch herum, Ahnungen von Schubert, Mendelssohn und, merkwürdigerweise, Brahms funkeln. Der Beethoven-Schatten ist da, aber Ries war offensichtlich keiner, der sich – wie Schubert, wie Brahms – in ihm erst einmal wundkomponieren musste, um aus dem Leiden am Titanenwerk heraus eigene sinfonische Wege zu finden. Das atmet die politische Unruhe der Epoche, fängt musikalisch alles ein, was diese klassisch-romantische Scharnierzeit prägte. Beethovenesk ist das natürlich. Macht aber gar nichts. Und wenn es ein Zeichen großer Musik ist, dass man am liebsten sofort mitspielen möchte, sind Ries‘ Sinfonien riesig. Jedenfalls in der Tapiola-Sinfonietta-Version.
Hinterher will man Petitionen verschicken an die Konzertveranstalter und Programmmacher dieser Welt, doch bitte mindestens jede dritte Aufführung einer – sagen wir – Sibelius-Sinfonie durch eine von – sagen wir – von Ries‘ Sechster zu ersetzen. Wer danach – wenn sie so hochaufgeladen und -gespannt gelingt wie von der Tapiola Sinfonietta –, noch kein Riesianer ist, soll halt weiter Eroica hören.
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