Wer von Eva Illouz erwartet hatte, dass sie am 9. November nach Deutschland, ins schwäbische Marbach, kommt, um als engagierte Intellektuelle über Israel, weltweiten Antisemitismus und die Situation in Gaza zu sprechen, wurde überrascht.

Illouz, die 1961 in eine sephardische Familie in Marokko geboren wurde und heute als Soziologin und Kulturtheoretikerin in Paris lehrt, hat im Gefüge internationaler Akademiker eine Sonderstellung. Als Soziologin hat sie einflussreiche Werke vorgelegt, etwa „Der Konsum der Romantik“ oder „Die Errettung der modernen Seele“, gleichzeitig ist sie eine Denkerin, die ihre oft kapitalismuskritischen Gegenwartsdeutungen so zeitgeistig ablöscht, dass sie zu populären Sachbüchern werden, etwa „Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und ‚Fifty Shades of Grey‘“.

Nach dem 7. Oktober hat Illouz eine weitere Aufgabe in ihr intellektuelles Portfolio aufgenommen: zu betonen, wie verstörend es für sie als Linksliberale und Kritikerin der Regierung Netanjahu sei, dass es anderen linken Intellektuellen an Empathie gegenüber Juden fehle – insbesondere, wenn diese, wie Illouz, selbst jüdisch seien. Zuletzt kritisierte Illouz vor allem die amerikanische Philosophin Judith Butler, die die Massaker der Hamas „mit der romantischen Vokabel des Widerstands“ verkläre.

Eva Illouz ist wegen ihrer Haltung in den vergangenen Monaten wiederholt Opfer des ganzen Spektrums postmodernen Mundtotmachens geworden: Proteste, Ausladungen von Universitäten, Canceln von Veranstaltungen – meist deswegen, weil sie darauf verweist, dass der Krieg in Gaza mit dem Überfall der Hamas begann. So hätte Illouz Ende November an der Erasmus-Universität von Rotterdam einen Vortrag über „Romantische Liebe und Kapitalismus“ halten sollen, war dann aber mit der fadenscheinigen Begründung ausgeladen worden, man kooperiere nicht mehr mit israelischen Hochschulen – Illouz war viele Jahre auch Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Auch von anderer Seite passt Illouz‘ Haltung nicht: Zu Beginn des Jahres wurde ihr vom israelischen Bildungsminister antiisraelische Ideologie vorgehalten; er sprach sich dafür aus, ihr den diesjährigen Israel-Preis, die höchste kulturelle Ehrung des Landes, nicht zuzuerkennen, für den sie nominiert worden war. Illouz sollte sich davon distanzieren, dass sie 2021 eine Petition unterschrieben hatte, die eine Untersuchung darüber forderte, ob Israel im Gazastreifen, in der Westbank und Ostjerusalem Kriegsverbrechen begangen hat.

In ihrer Schillerrede, die alljährlich Anfang November am Deutschen Literaturarchiv gehalten wird, um an den Geburtstag Friedrich Schillers am 10. November 1759 zu erinnern, ließ Illouz all diese direkten und indirekten Beschneidungen ihrer Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit unerwähnt und sprach über die Welt im Zustand des Chaos. Sie trat mehr als Komparatistin denn als Soziologin ans Pult: Wir studieren Texte nicht, um eine Wahrheit in ihnen zu finden, begann Illouz, sondern um uns mit den Unsicherheiten und Wirrnissen des menschlichen Lebens zu befassen; wir lesen Texte, um Erfahrungen eine Form zu geben, die ins Chaos abzugleiten drohen.

Anhand einer vergleichenden Analyse von Schillers „Räubern“ und Shakespeares „König Lear“ ging es darum, das „moralische Chaos“, das unsere Gegenwart charakterisiere, zu deuten. Ähnlich wie „Die Räuber“ sei „König Lear“ ein Stück, in dem die moralische Ordnung nicht hergestellt werde, eine Katharsis bleibe aus. Der König bediene sich des Eigenlobs und der Selbstverherrlichung; ein eigenes Sprachregister, das ihn von anderen unterscheide und zur moralischen Erkenntnis unfähig mache. In dieser Eigenschaft ähnele er Donald Trump, der sich immer wieder als „stable genius“, ein stabiles Genie bezeichnet habe.

Nun ist eigentlich beinahe jeder Vergleich einer literarischen Figur mit dem gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten lahm – der Vergleich mit Lear aber insofern interessant als Illouz darauf hinauswollte, das Motiv der Selbstverherrlichung psychologisch zu deuten: als sprachliche Strategie, sich von sich selbst abzuwenden; die menschliche Fähigkeit selbstreflexiv zu handeln, käme so an ihr Ende.

Illouz fuhr fort, Trumps „antidemokratischen Autoritarismus“ als faschistisch zu kritisieren. Ob Trump antisemitisch sei, sei nicht eindeutig zu beantworten: Sein Vorgehen gegen Antisemitismus an amerikanischen Universitäten spreche dagegen, seine Unterstützung des „hitlerhaften“ Rapper Ye und den Livestreamer Nick Fuentes spräche aber dafür. Illouz führte diesen Punkt nicht weiter aus, sodass ihr Argument, so sehr es auch aus Shakespeare hergeleitet und mit der typischen Tiefenschärfe der Theoretikerin vorgetragen war, ungenau wurde und sich etwas zu gut in die seit 2017 in Variationen vorgetragene immergleiche linke Kritik an Trump fügte: Der amerikanische Präsident als Faschist, der sich vom konventionellen Faschisten unterscheidet, weil er auf Disruption, Unberechenbarkeit und Chaos setzt, die er über seine sozialen Medien verbreiten lässt.

Interessanter erschien da Illouz‘ Deutung der Übermacht des Sprechens von König Lear: „Etwas ist der Fall, weil ich sage, dass es der Fall ist“. Wie sehr sich diese Form der Weltwahrnehmung gegen die Form der Differenziertheit durchsetzt, hat Eva Illouz in den vergangenen Monaten selbst erfahren müssen. Dass sie die in Marbach unerwähnt ließ, sprach wiederum für sich.

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