Am Ende waren es doch fast sieben statt der angekündigten sechs Stunden, nach denen das wie erschlagen wirkende Premierenpublikum in die Dresdner Nacht hinaus wankte. So viel Zeit musste man mitbringen, um die zweite Arbeit des ehemaligen Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf in der sächsischen Landeshauptstadt zu sehen. Ob es sich gelohnt hat? Schwer zu sagen. Ein bisschen wie bei der Revolution, um die es an diesem Abend mit Georg Büchners „Dantons Tod“ und Heiner Müllers „Der Auftrag“ geht (wobei auf dem Programmzettel nur „Dantons Tod“ steht): Großartiges und Schreckliches liegen nah beieinander. Und alles wird im unerbittlichen Mahlstrom der Zeit hin weggerissen.
Man könnte sagen, dass Castorf mit einer zerdehnten Inszenierung etwas entdeckt, was allen Revolutionen innewohnt: die Suche nach der einmaligen Gelegenheit, dem Kairos, um mit Wucht ins Räderwerk der Geschichte zu greifen. Schließt sich das Fenster der Entscheidung, sind es die Revolutionäre selbst, die unter die Räder geraten. Und bekanntlich erst als Tragödie, dann als Farce. Man könnte allerdings auch sagen, dass Castorf nach der Pause – und dreieinhalb dichten Stunden im ersten Teil – schlicht die Zeit, Kraft oder Lust gefehlt haben, den Abend fertig zu inszenieren. Es fehlt ein starkes Schlussbild. Oder ist das auch wieder ein ästhetisches Urteil über die Revolution?
Zu den großartigen Momenten gehört, wie Torsten Ranft kurz vor der Pause ganz allein vor einer riesigen roten Fahne steht, nur ein Stuhl und eine umgekippte Bücherkiste an seiner Seite. Das Wissen ist ihm keine Hilfe mehr, auch die Ruhe fehlt ihm, so gibt er Müllers „Mann im Fahrstuhl“ mit sächsischem Unterton als Zeugnis einer umfassenden Verunsicherung. Die Geschichte sendet keine Signale mehr, der Chef gibt keinen Auftrag mehr, ein Ziel ist nicht mehr auszumachen und auch der Weg ist dieses Ziel nicht mehr, sondern nur noch ein rastloses Getriebensein. Eine metaphysische Erlösungshoffnung im freien Fall, und ein Sturz, der keine Flügel wachsen lässt. Was bleibt, ist der Verlust.
Castorfs Inszenierung kreist um den Verlust revolutionärer Gewissheit. In „Dantons Tod“ ist es der große Redner der Jakobiner, der die nach Umsturz lechzenden Massen mit geköpften Adeligen besänftigt, bevor er von Robespierre selbst unter die Guillotine gebracht wird. Franz Pätzold als der fiebrige Protestant Robespierre und Jannik Hirsch als unersättlicher Danton liefern sich im Kerzenlicht klirrende Duelle nur mit Worten und Blicken, im tiefen Rot der Weingläser spiegelt sich ahnungsvoll die Blutsauferei als Revolutionsersatz. Als „Polizeisoldat des Himmels“ und „Blutmessias“ bezeichnet sich Robespierre, der seine endzeitliche Fantasie des „Blutgerichts“ zu verwirklichen sucht.
Pätzold als Robespierre und Hirsch als Danton sind ein Erlebnis an diesem Abend. Steckt in dem protestantischen Rächer Robespierre, der die „gesunde Volkskraft“ beschwört und „Wir sind das Volk!“ ausruft, nicht auch ein Hauch des sächsischen Temperaments? Ist in seinen Tiraden gegen die Fesseln des Gesetzes und für den Terror der Tugend nicht der ganze Michael Kohlhaas mit seiner zerstörerischen Unbedingtheit des Gewissens, bei Kleist kommt das von Luther, schon enthalten? Castorf, der in Interviews die AfD schon einmal als „Rache des Ostens“ bezeichnet, dürfe nicht nur an das von feudalen Eliten zerfressene Frankreich des 18. Jahrhunderts gedacht haben.
Das Scheitern der Revolution im Äußeren
Als Parallelgeschichte verschneidet Castorf das Revolutionsdrama „Der Auftrag“ mit Büchner. Es ist die Geschichte der drei französischen Gesandten, die in der Karibik nach dem Vorbild der schwarzen Jakobiner von Haiti die Befreiung der Sklaven organisieren sollen. Doch als Napoleon an die Macht kommt, wird die Abschaffung der Sklaverei zurückgenommen, der Auftrag ist pulverisiert. Nun versuchen sie, in ihre alten sozialen Rollen zurückzukehren, wobei das nur für den Sohn eines Sklavenhalters wirklich erfolgreich funktioniert. Büchner schildert den Zusammenbruch der Französischen Revolution im Inneren, Müller ihr Scheitern im Äußeren – eine kluge Erweiterung.
Was bleibt von einer halbgemachten Revolution? Nur ein „Geschichtszeichen“, wie es der Philosoph Immanuel Kant einmal sagte? Sehr viel Hoffnung und entsprechend viel Verzweiflung? Der „Engel der Verzweiflung“ darf natürlich auch an diesem Castorf-Abend wieder seine Flügel aufschwingen, auch wenn er bereits zum Gegenstand der Parodie wird. Ist nicht selbst die linksnostalgische Pose der Verzweiflung, die Müller noch an seine Nachfolger wie Castorf weitergab, heute überholt? Oder ist es umgekehrt die diskrete Weitergabe eines negativen „Geschichtszeichens“ aus dem Jahrhundert der Extreme in das 21. Jahrhundert, das bei den Extremen inzwischen aufzuholen beginnt?
Und was bleibt von einem halbgemachten Theaterabend? Wie erwähnt: viele großartige und ein paar schreckliche Momente. Großartig sind das spielfreudige Ensemble, die düstere Drehbühne von Aleksandar Denić, die opulenten Kostüme von Adriana Braga Peretzki, die Musikauswahl von William Minke oder die maßstabsetzende Live-Kamera. Natürlich, damit hat sich Castorf nicht neu erfunden, mit Künstlern wie Denić, Peretzki und Minke arbeitet er seit Jahren – sehr erfolgreich – zusammen. Man muss sich aber mit fast 74 Jahren und bei so einer Könnerschaft auch nicht neu erfinden. Manchmal muss man nur erfahrbar machen, wie grausam die Geschichte ist, gerade wenn lange Zeit nichts Spannendes passiert. Fast wie im Theater.
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