Es ist einer der letzten schönen Herbsttage des Jahres in Wien. Auf dem Platz spielen ein paar Kinder, während die Eltern in ihren Designermänteln auf die Bildschirme ihrer Telefone schauen. Beschaulich ist es in der Josefstadt, dem 8. Wiener Gemeindebezirk. Barbi Marković wohnt etwas weiter draußen im raueren Ottakring, dem angrenzenden 16. Bezirk mit Hipstercafés und Balkangrills.

Die Schriftstellerin stellt ihr Fahrrad neben der Tischtennisplatte ab. Sie hat extra ein paar neue Bälle gekauft, nicht im klassischen Weiß, sondern in grellbunten Farben. Die Wahl fällt schnell auf Pink, das Spiel beginnt.

Marković erzählt, dass Prince am Ende seiner Karriere gern Tischtennis bei Interviews gespielt habe, ohne dabei nur ein einziges Wort zu sagen. Angeblich sei der Musiker sehr ehrgeizig an der Platte gewesen. Beides ist bei Marković zum Glück nicht der Fall: Man kann sich mit der 1980 in Belgrad geborenen Autorin gemütlich unterhalten, während der pinkfarbene Plastikball hin- und herfliegt. Und sie spielt am liebsten nicht um Punkte, sondern einfach „nur so“ – ein Zusammenspiel, das sich selbst genügt, ganz ohne Wettbewerb. Trotzdem werden die Ballwechsel immer schneller und intensiver.

„Tischtennis ist der einzige Sport, den mir mein Vater nicht verdorben hat“, sagt Marković. Ihr Vater, Slobodan Marković, war ein Sportbesessener, der wenig Gespür dafür zeigte, was die Bedürfnisse seiner Tochter waren. Ihren Geburtstag feierte die kleine Barbi immer auf dem Fußballplatz, dabei interessierte sie sich gar nicht für Fußball. So erzählt es Marković in ihrem jüngsten Buch, dem „Piksi-Buch“. Auf knapp 100 Seiten beschreibt sie ihren von der Leidenschaft fürs Kicken besessenen Vater – und den Zusammenbruch des sozialistischen Jugoslawiens anhand der damaligen Fußballkultur. Piksi wurde damals die Fußballlegende Dragan Stojković gerufen, der bis vor Kurzem noch die serbische Nationalmannschaft trainierte – bis zu einem 0:1 gegen Albanien.

Das kleine „Piksi-Buch“ zeigt die große Erzählkunst von Marković: den sprühenden Witz, die genaue Beobachtungsgabe, die klare Sprache. An einer Stelle heißt es: „Im Nachhinein durch das Erzählen so zu punkten, dort, wo man im Leben verloren hat.“ Es ist wie ein Durcharbeiten der eigenen Erfahrung mit dem Sport, aber auch mit einem Staat, in dem die verordnete Völkerverständigung erschlafft und die Anziehung des Nationalismus erstarkt. Es folgten schlimme Zeiten. „Ich hasse Fußball“, lautet der letzte Satz des Buchs. Trotzdem wurde das „Piksi-Buch“ im Oktober als bestes Fußballbuch des Jahres ausgezeichnet. Marković lacht, das ist Humor nach ihrem Geschmack.

Ganz anders als beim Fußball ist es für Marković beim Tischtennis: „Ich liebe Tischtennis!“ Leider komme sie nicht mehr so oft zum Spielen. Seit sie im vergangenen Jahr mit „Minihorror“ den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen hat, sind die Medien auf Marković aufmerksam geworden. Ob Kommentar zum Weltgeschehen, kleine Reportage, literarischer Kurztext oder Interview – oft kommen mehrere Anfragen am Tag. Und nur selten lässt sich das so gut mit Tischtennis verbinden wie heute. Vieles sagt Marković ab. „Ich habe kein großes Mitteilungsbedürfnis.“ Was sie mitzuteilen hat, steht in ihren Büchern. Sich mit Meinungsbeiträgen wichtig machen? Braucht sie nicht.

Kürzlich hat sie eine Ausnahme gemacht und ist mit dem österreichischen Fernsehen nach Belgrad gefahren, um über die Proteste in Serbien zu sprechen. Marković ist in Belgrad geboren und aufgewachsen. In ihrem ersten Buch, dem auf Serbokroatisch geschriebenen Thomas-Bernhard-Remix „Ausgehen“, schilderte sie die Clubszene der Stadt – im Sound des berühmten österreichischen Schriftstellers. Und als vor 25 Jahren, am 5. Oktober 2000, ein Aufstand den damaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević aus dem Amt jagte, war sie dabei. Heute richten sich die Proteste gegen den aktuellen Präsidenten Aleksandar Vučić und seine Regierung – und gegen die Korruption.

„Was in Serbien passiert, geht mich noch etwas an“, sagt Marković. Sie habe damals erlebt, wie der Protest in Resignation umkippte, aus der diejenigen, die heute in Serbien auf die Straße gehen, einen Ausweg suchen. Trotzdem sei das nicht ihr Protest, sondern der einer neuen Generation mit anderen Erfahrungen, sagt Marković. Ihre Generation sei noch durch Nationalismus und Krieg traumatisiert worden – jene schlimmen Zeiten, die sich im „Piksi-Buch“ andeuten. Für Marković ist es irritierend, dass sich die Proteste heute der nationalen Folklore bedienen, gegen die sie früher auf die Straße gegangen ist.

Seit fast 20 Jahren lebt Marković inzwischen in Wien, erst als prekäre Studentin, später oft nicht weniger prekär als freie Schriftstellerin. Man kann ihre Geschichte am besten erzählen, indem man zwei Bücher von ihr nimmt. Da ist „Die verschissene Zeit“, in dem drei Freunde sich prügelnd und fluchend durch das Belgrad der 90er-Jahre schlagen müssen, gefangen in einer Zeitschleife. Überlebenskampf im Brutal-Modus. Und da ist „Superheldinnen“, in dem drei Freundinnen in einem heruntergekommenen Wiener Kaffeehaus sitzen, von den Härten schlecht bezahlter Kulturarbeit gebeutelt und vom großen Glück träumend. Weniger brutal, aber immer noch im ewigen Krisenmodus.

Die verlorene Zeit und die verschissene Zeit

Wie viel „echte“ Barbi Marković steckt in ihren Büchern? Sie lacht und schmettert einen Ball mit kräftigem Vorhand-Topspin auf die Kante der Platte. „Svinja!“, ruft sie. Das heißt „Schwein“ auf Serbisch, der Fachbegriff für den Kantentreffer. „Ich gehe von meiner Erfahrung aus, die ist das Einzige, was ich habe“, sagt Marković. Und Vorbilder. Wie der von ihr geliebte Marcel Proust, dessen „Verlorene Zeit“ sie mit ihrer „Verschissenen Zeit“ zitiert. Wie Thomas Bernhard bei „Ausgehen“. Oder wie das „Lustige Taschenbuch“ bei „Minihorror“. Die „echte“ Barbi Marković habe zwar viel mit ihren literarischen Doubles wie im „Piksi-Buch“ zu tun, aber trotzdem sei alles erfunden und durch Fantasie überformt, betont die Schriftstellerin. Das „Echte“ fällt in die Fiktion, nicht umgekehrt.

Ich versuche, Distanz zu mir zu erzeugen“, heißt es in der Poetikvorlesung von Marković, die den hübschen Titel „Stehlen, Schimpfen, Spielen“ trägt. „Damit ich der Geschichte näherkommen kann. Damit ich besser beobachten kann. Damit ich über mich hinauswachse.“ Die Poetikvorlesung, erst in Salzburg gehalten und später als Buch veröffentlicht, ist selbst das Paradebeispiel dieses Über-sich-selbst-Hinauswachsens. Denn eigentlich hatte Marković keine Zeit für den Text gehabt. Sie fürchtete, zu versagen. Und genau da, wo die Angst am größten ist, kommt die Literatur ins Spiel. Sie rächt – und rettet gar? – die „kleinen, in die Ecke gedrängten Seelen“, wie es an einer Stelle heißt.

„Die Kleinsten sollen die Größten sein“, bringt Marković das Versprechen der Literatur auf den Punkt. So betrachtet, ist es kein Zufall, dass die Schriftstellerin beim „kleinen“ Tennis, dem Tischtennis, gelandet ist. Es passt zu ihrer kleinen Literatur, die von der List der Fantasie belebt ist und aus dem Spiel der Stärke desertiert. Nun ist es allerdings genug mit dem Tischtennis. Es wird langsam dunkel, auch die Eltern scheuchen ihren Nachwuchs vom Spielplatz nach Hause. Marković packt ihren Schläger ein, nicht aber den pinkfarbenen Ball – der ist ein Geschenk, zur Erinnerung an diesen Herbstnachmittag.

Ein paar Straßen entfernt, im Kosmos-Theater am Siebensternplatz, wird im Dezember „Die verschissene Zeit“ als Theaterstück aufgeführt. Marković selbst hat die Fassung für die Bühne geschrieben. Viele ihrer Bücher sind bereits im Theater aufgeführt worden – „Superheldinnen“ am Wiener Volkstheater zum Beispiel oder „Minihorror“ in Wien, Köln, Magdeburg und Graz. Für das Zürcher Schauspielhaus schreibt Marković gerade ein neues Stück, die Uraufführung ist im Januar. Der Titel: „3 Schwestern“. Die Parallele zu Tschechows berühmtem Stück? Purer Zufall und volle Absicht, so die Ankündigung. Vor allem soll es in ihrer Fassung um Dreierkonstellationen gehen, erzählt Marković, die auch in „Superheldinnen“ oder „Die verschissene Zeit“ schon eine große Rolle spielen.

Mit dem Theater hat Marković etwas wie ein zweites Standbein gefunden. Nächstes Jahr wird sie unter anderem als Hausautorin am Nationaltheater Mannheim arbeiten. Dabei hat sie das Theater in der Kindheit ungefähr so sehr begeistert wie mit ihrem Vater zum Fußball zu gehen: etwas, das man bei Einhaltung der äußeren Form, aber ohne große innere Beteiligung abgesessen hat. Einen eigenen Zugang musste sie sich auch hier erst abtrotzen. „Ich glaube, dass ich gut erzählen kann“, sagt Marković. Und trotz aller Unterschiede von Prosa und Drama komme es doch vor allem auf das Erzählen an.

Im Café Hummel trinkt Marković noch einen Kaffee, bevor sie ins Theater geht – heute Abend als Zuschauerin, was selten genug vorkommt, nicht als Autorin. Das Kaffeehaus ist fast voll besetzt; an speziell dafür gefertigten Tischen mit grünem Samtbezug spielen ältere Besucher Karten. Marković bedankt sich, dass wir uns zum Tischtennis getroffen haben – das mache die für sie oft ein wenig belastenden Medientermine gleich viel erträglicher und angenehmer. In ein paar Jahren könne sie es vielleicht auch wie Prince machen, ohne dabei zu reden, sagt sie lachend. Das wäre sogar fast noch schöner.

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