Wer jung ist, möchte die Welt verändern. Wer jung ist, will nichts besitzen außer Freiheit. Nicht schlafen, nicht an morgen denken. Doch wer in den letzten 20 Jahren jung war und heute erwachsen ist, will vor allem Ruhe. Das rebellischste Ideal unserer Zeit heißt: Ordnung.

Die 30-Jährigen sehnen sich nach Verlässlichkeit und Routinen. Sie fahren samstags ihre Autos in die Waschstraße, stapeln ihre Weck-Gläser auf dem Fensterbrett und fermentieren, sie haben eine Jogging-Routine und melden sich bei Marathons an.

Noch vor wenigen Jahren war Marathonlaufen ein Midlife-Crisis-Projekt ehrgeiziger Familienväter. Zwischen 2010 und 2019 stellten Männer in ihren Vierzigern die Mehrheit der Starter. Heute dominieren 25- bis 39-Jährige die Startfelder. Der Marathon ist zum Ausdauer-Ritual einer Generation geworden, die ihre Lebensqualität an der täglichen Schrittzahl abliest.

Die erwachsenen Millennials benehmen sich inzwischen so wie ihre Eltern in der Midlife-Crisis in den 90ern und merken, dass die verheißungsvolle Werbung der Bausparkasse vielleicht doch nicht falsch lag: „Wenn ich groß bin, will ich auch Spießer werden.“

Doch diese Fermentierer, Golfer, Dauerläufer sind keine Spießer im eigentlichen Sinne. Sie geben sich nicht der Erwartung einer Gesellschaft hin. Sie verspüren eine tiefe Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung. Nach den Jahren der Selbstoptimierung, der Sinnsuche und Selbstzerstörung erscheint Stabilität deshalb als radikal. Der Wunsch nach Eigentum, Ehe, Garten. Es ist der Wunsch nach Verantwortung für sich selbst und andere. Dabei ist das Reihenhaus im Vorort nicht mehr das Symbol der Anpassung. Es ist vielmehr die Erkenntnis: Es ist gar nicht so schlimm wie die eigenen Boomer-Eltern zu sein. Sie haben sogar erstaunlich viel richtig gemacht.

Eine Generation, die den Lebenssinn im Exzess gesucht hat, kehrt zu dem zurück, was sie kennt. Dabei sind die aufgeräumten Wohnungen, die Jogging-Routinen und das Früh-ins-Bett-Gehen kein Rückzug, sondern einfach der Gegenentwurf zum Dauerstress und zu Mord und Totschlag in den sozialen Medien. Brotbacken, Golfspielen, Rennradtouren durchs Bergische Land befriedigen das Bedürfnis nach Kontrolle des Unkontrollierbaren. Die neue Spießigkeit ist also vielmehr die Emanzipation von Katastrophen, die auf den Handys aller live mitzuerleben ist.

Nach zwanzig Jahren Dauerkrise, samt Kollaps der Weltwirtschaft, Pandemie, Kriegen in Europa und Nahost, der Klimakrise, entsteht ein neues Bedürfnis nach Besitz und Bürgerlichkeit. Es ist die Wiederentdeckung des Privaten. Es ist die Wiederkehr des Biedermeier.

Das historische Biedermeier war eine Phase der Erschöpfung. Nach Napoleons Feldzügen, nach Revolution und Ernüchterung zog sich das Bürgertum ins Häusliche zurück. Die großen Entwürfe hatten sich erschöpft. Das Pathos der Freiheit war zu heroisch und wich der Sehnsucht nach Sicherheit. Auch heute wird Freiheit als selbstverständlich angenommen.

Das Glück in der Stube

Die Welt da draußen war damals zu laut, also suchte man das Glück in der Stube. Auch heute ist es da draußen zu laut, aber heute sieht die Stube besser aus: Es duftet nach Diptyque-Soja-Wachs, die Bettwäsche ist aus weißem Leinen, gekocht wird in Creuset-Töpfen, verstaut in USM-Regalen und gesessen auf Thonet- oder Philipp-Starck-Stühlen.

Das neue Bürgertum will nicht unauffällig, aber harmonisch in Beige und Weiß leben. Anders als vor 200 Jahren geht es nicht um Selbstbeschränkung, sondern um Selbstgestaltung. Der alte Rückzug war moralisch, das heutige Biedermeier ist stilvoll und unpolitisch. Es ist die Gegenbewegung zu den letzten Jahren, in denen Alltagsentscheidungen politisiert und kategorisiert wurden in böse (Wiener Schnitzel, SUVs und Flugreisen) und gut (Zugfahren und Recup-Becher).

Innerlich knitterfrei

Die Uniform der Creuset-Biedermeier ist ausgerechnet Multifunktionskleidung. Sie heißt inzwischen zwar Athleisure und soll so sprachlich eine Verbindung zwischen Sport und Freizeit signalisieren. Letztlich ist sie aber die Wiedergeburt der Jack-Wolfskin- und Vaude-Regenjacken, die die eigenen Eltern im Ostsee-Camping-Urlaub trugen.

Natürlich sind sie heute weniger knallig. Die grausamen Farbkombinationen aus Lila und Neongelb gibt es nicht mehr, stattdessen gedeckte Erdtöne von Lululemon-Windbreakern, Patagonia-Fleecepullis und rückenschonenden On-Turnschuhen. Die Kleidung soll Dynamik ausstrahlen, aber keine Anstrengung zeigen. Der Umsatz dieser Multifunktionskleidungshersteller wächst seit Jahren.

Die Faltenfreiheit der Callaway-Golfhose und des Rapha-Rad-Mützchens ist das textile Ideal einer Generation, die auch innerlich knitterfrei bleiben will. Früher kleidete man sich für die Welt, heute kleidet man sich für das Gefühl, alles im Griff zu haben. Der Creuset-Spießer ist der letzte Romantiker einer überschaubaren Welt.

Warum das alles? Der World Happiness Report zeigt seit Jahren, dass jüngere Generationen in westlichen Ländern wenig zufrieden mit ihrem Leben sind. Ältere, also die Generation ihrer Eltern, hingegen sind oft glücklicher. In Deutschland etwa ist die Gruppe der unter 40-Jährigen im Glücksranking deutlich abgerutscht, während die Älteren vergleichsweise gelassen sind.

Der Perspektivwechsel könnte also darin liegen: Die Eltern haben mit ihrer Spießigkeit, ihren verregneten Sonntagspaziergängen über graue Felder, ihren Wanderurlauben und ihren „Kinder müssen an die frische Luft“-Mantras viel richtig gemacht. Sie sind zufriedener. Es findet also kein Rückzug ins Private, sondern eine Hinwendung statt. Das Private wird neu entdeckt, als ein Ort, in dem zumindest am Wochenende der Esstisch den Bildschirm ersetzt. Das Mädchen aus der Bausparwerbung hatte also doch recht.

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