Als es mit den Sechzigern zu Ende ging, war er schon tot. Die Beatles liefen im Herbst 1969 für ihr Abschiedsalbum an der Abbey Road über den Zebrastreifen. Paul McCartney schien zu schweben wie ein barfüßiger Engel. Das Gerücht, er sei nicht mehr am Leben, gab es damals seit einigen Jahren. „Abbey Road“ sorgte auch unter Gutgläubigen für die traurige Gewissheit, dass Pauls Himmelfahrt vor aller Welt geheim gehalten wurde: Auf dem Coverbild parkte ein Volkswagen, ein Käfer mit dem Autokennzeichen 281F.

Er wäre 28 Jahre alt gewesen. 1F stand für if, für wenn.

An dieses Wenn erinnert sich der ewige Beatle 56 Jahre später in seinem Buch „Wings“ über die Siebzigerjahre: „Ich war wirklich tot, in so vielerlei Hinsicht … ich war im Begriff, ein Ex-Beatle zu werden. Ich ertrank in einem Meer juristischer sowie persönlicher Streitereien, die mir sämtliche Energien raubten, und ich musste mein gesamtes Leben von Grund auf neu sortieren.“ Er wurde zu einem neuen Menschen, einem zweiten Paul. Aus steuerlichen Gründen war er bereits im Besitz einer schottischen Schaffarm am Mull of Kintyre. James Paul McCartney war, neben John Winston Lennon, zwar einer der größten Musiker der Welt und seiner Zeit. Sonst konnte er aber nicht viel. Doch er lernte, auf dem Land zu leben. Fußböden waren zu zementieren, Steckrüben zu hacken und Schafe zu scheren. Er schreinerte sogar einen Esstisch für seine Familie. Zum Beweis zeigt er im Buch die Skizze seines Bauplans.

Jahr für Jahr gehört der Herbst den Beatles. Ihre Alben werden fürs Adventsgeschäft wieder veröffentlicht in immer neuen Sammlereditionen. Diesmal die „Anthology“ von 1995, die auf Schallplatten gepresste, von Zeitzeugen im Dokumentarfilm und im Buch erzählte Bandgeschichte. Paul McCartney hält mit „Wings“ dagegen, seiner eigenen „Oral History“. Wings war die Band, mit der er sich von den Beatles befreite, seine, wie es auch im Untertitel steht, „Band on the Run“. Dazu erscheinen drei Platten mit den wichtigsten Werken seiner Wings. Im Winter folgt „Man on the Run“ als Film zum Buch, zur „Wings-Bibel“ (McCartney).

Es ist die Geschichte seiner Emanzipation. Als Beatle war er tot. Der „NME“, der britische „New Musical Express“, besprach alles, was er nach 1970 schrieb und sang, als Schaffen nach dem „Großen Sterben“. Ted Widmer, der Herausgeber von „Wings“, erklärt den Scheintod des Schöpfers von „Yesterday“ zur „metaphorischen Wahrheit“. „Was macht man nach einer Band wie den Beatles?“, fragt sich McCartney in seinen Erinnerungen. „Ich musste mich selbst finden – und etwas anderes, das nicht die Beatles waren.“

Er nahm auf der Farm allein sein erstes Album auf, „McCartney“, und mit Linda, seiner Frau, das zweite, „Ram“, mit einem Cover, das ihn bei der Schafschur zeigte. Danach stellte das Paar eine Band zusammen. „Die Beatles waren alte und bequeme Schuhe – man hat sie einfach übergezogen, sie haben gepasst, und man hat sich wohlgefühlt. Wings waren wie neue Schuhe – die musste man erst einmal einlaufen.“

Zu Wort kommt auch John Lennon über seinen wiederauferstandenen Freund: „Ich bewundere, wie er von seinem Podest gestiegen ist. Jetzt steht er wieder drauf.“ Es ist nicht nur der Herbst der Beatles. „Power to the Poeple“ erzählt auf zwölf Ton- und Bildträgern wieder von Lennons eigener Plastic Ono Band, die er mit Yoko Ono, seiner Frau, schon vor dem Ende der Beatles gegründet hatte. Paul McCartney sagt in „Wings“ über ihre getrennten Wege: „Wenn ich damals davon geträumt habe, dorthin zurückzukehren, wohin wir einst gehörten, dann träumte John davon, über das hinauszugehen, wohin wir einst gehörten. Irgendwohin, wohin wir nicht gehörten.“

Man kann „Wings“ als Bandgeschichte lesen. Über ihren Namen aus den vielen Liedern über Vögel, die McCartney schon gesungen hatte, Shakespeare-Versen und dem Bild des Engels, der ihm in Gestalt seiner Tochter Stella erschienen war, die Lästereien über Linda und ihre Konzertreisen in bunten Bussen um die Welt mit der ganzen Familie.

Eigentlich erzählt, was Paul McCartney kuratiert hat für Buch, Film und Alben mit den Lieblingsliedern aus der Wings-Ära, von der Beziehung zwischen Paul und John: zwei Schulfreunde aus Liverpool, die gemeinsam über sich selbst hinauswuchsen. Sie fanden die Frauen ihres Lebens und erfanden sich als Künstler neu. McCartney schrieb und sang „Too Many People“ über Lennons Predigten mit Yoko Ono an die Menschheit und zeigte zwei Käfer, Beetles, auf der Single, die sich paarten. Lennon reagierte darauf mit „How Do You Sleep?“ McCartney wiederum veröffentlichte als Versöhnungssong „Dear Friend“.

Da waren aber nicht nur die gesungenen Duelle von New York nach Schottland und zurück. Für „Wings“ führt Paul McCartney eine der Geschichten aus, bei denen man nie wusste, wie viel Legende war. So viel galt als gesichert: 1973 floh John Lennon mit May Pang, die ihm und Yoko Ono bei ihren Geschäften und im Haushalt assistiert hatte, nach Hollywood. Ihre Affäre hielt bis 1974. Lennon kehrte heim zu seiner Frau und zeugte einen Sohn. Er wurde häuslich und vernachlässigte die Musik. Dass auch McCartney in Los Angeles gesichtet worden war, hatte die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der Beatles belebt. Den Traum nahm Lennon 1980 mit ins Grab.

So war es 1974, laut „Wings“, wirklich: Die McCartneys boten sich der wütenden Yoko Ono an, ihre Ehe zu retten, suchten Lennon auf, der in einer WG mit anderen Musikern verwahrloste und wie ein junger Rockstar hauste. „Also sagte ich zu John: ‚Hör mal, komm her. Lass uns irgendwo ungestört reden.‘ Wir sind in ein Zimmer gegangen, und ich habe mich mit ihm hingesetzt und gesagt: ‚Ich komme mir hier fast vor wie ein Kuppler, aber Yoko liebt dich immer noch. Liebst du sie auch noch?‘ Und dann fiel der ganze äußere Schutzwall von ihm ab, und er sagte: ‚Ja. Aber ich weiß nicht, was ich machen soll.‘ Also habe ich gesagt: ‚Yoko hat uns in London besucht, und wir haben mit ihr geredet. Sie liebt dich, aber du musst dich verdammt anstrengen, um sie zurückzugewinnen.‘“ Im Vorwort schreibt McCartney: „Und eines der schönsten Ereignisse von Johns lost weekend war, dass die beiden Sean bekamen.“

Neben den McCartneys trägt Sean Ono Lennon die Geschichte, die „Wings“ heißt, aber nur oberflächlich von der gleichnamigen Band handelt. Der Sohn von Yoko Ono und John Lennon erzählt von den Flügeln, die sich zwei gestutzte Beatles wieder wachsen ließen und was sie immer verband. „Sie ergänzten einander wie der Plus- und Minuspol eines Magneten … Wenn ich mir die Beziehung zwischen John Lennon und Paul McCartney ansehe, ist sie ein Argument fürs Kosmische. Ein Argument für das Schicksal. Ein Argument für einen Plan Gottes … Sie waren kosmisch miteinander verbunden. Sie haben sich immer gegenseitig beeinflusst, ob sie im selben Raum waren oder nicht … Die beiden, das war eine Quantenverschränkung.“ In der Plattensammlung seines Vaters seien Paul McCartneys Soloalben die zerkratztesten, die abgespieltesten gewesen.

Wenn John Lennon nicht so früh gestorben wäre, davon ist Sean Ono Lennon überzeugt, hätten sie irgendwann und irgendwie wieder gemeinsam musiziert. Lennon, der seine Stücke eher in sich, in seinem Bauch und seinem Geist zu finden schien. McCartney, der, auch davon handelt „Wings“, die Ohren immer am Musikgedächtnis der Menschheit hatte und daraus so schöne Songs gewann, dass die Kritik ihn immer für den weicheren Beatle hielt: „Ich wurde ständig kritisiert, weil ich zu schnulzig wäre, zu lieb.“

„Wings“ endet, als sich auch seine zweite Band auflöst, mit „McCartney II“ und mit John Lennons Tod, als ein Narzisst ihn 1980 in New York ermordet, im Advent. McCartney schreibt ein Lied für seine für immer verlorene andere Hälfte, „Here Today“, und sagt hier und heute: „Wir haben einander unser ganzes Leben lang geliebt.“ Er lebt und liebt noch.

Paul McCartney: Wings: Die Geschichte einer Band on the Run – Eine Oral History. Beck, 549 S., 44 €

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