Als das Maxim-Gorki-Theater ankündigte, Adania Shiblis Roman „Eine Nebensache“ auf die Bühne zu bringen, war das ein Statement. Das für „postmigrantisches Theater“ bekannte Berliner Theater schien zu sagen: Schaut her, wir trauen uns die ganz heißen Eisen anzufassen! Dazu muss man Shiblis Roman zählen, in dem ein arabisches Beduinenmädchen von israelischen Soldaten vergewaltigt und ermordet wird.

Heftig wurde über die Haltung des Werks und der Autorin debattiert. Der Vorwurf: Israel werde bei Shibli dämonisiert, die Palästinenser würden hingegen idealisiert. Außerdem sympathisiere die Autorin mit „Boycott, Sanctions, Divestment“ (BDS). Shibli äußerte sich zunächst nicht, selbst als eine Preisverleihung für ihren Roman auf der Frankfurter Buchmesse abgesagt und verschoben wurde. Ein Schweigen, das für Irritation sorgte.

Vielleicht wäre eine Adaption für die Bühne die Gelegenheit gewesen, die Debatte um den Roman aufzuarbeiten oder fortzuführen. Vielleicht, wäre, alles Konjunktiv. Denn das Gorki-Theater hat die Aufführung kurz vor der geplanten Premiere am Donnerstag abgesagt. „Aufgrund von Dynamiken und Differenzen innerhalb des Casts und des künstlerischen Teams der Produktion sieht sich der künstlerisch verantwortliche Hausregisseur Oliver Frljić – dem Adania Shibli ihren Roman zur Adaption am Gorki anvertraut hatte – nicht in der Lage, die Arbeit an der Produktion weiter fortzusetzen“, heißt es in einem von der Intendantin Shermin Langhoff und ihrem Chefdramaturgen Johannes Kirsten gezeichneten Kurzstatement. „Wir bedauern alle sehr“, heißt es, dass der Roman nicht zur Aufführung kommen werde. Weil es die letzte Spielzeit von Langhoff als Intendantin ist, werde es auch keine Verschiebung geben. Die Absage ist also final.

Die Wortwahl der Mitteilung verwundert: „Dynamiken und Differenzen“ werden üblicherweise im Theater gefeiert. Das ist das, was alle wollen: Dynamik und Differenz – und auch noch im Plural! Eigentlich zumindest. Man ahnt, dass es sich bei den hier angesprochenen „Dynamiken und Differenzen“ um solche handelt, die man nicht haben wollte.

Weil sie die Proben gesprengt haben? Weil sie mit dem Selbstbild des sich als weltoffen präsentierenden Hauses nicht vereinbar gewesen wären? Das muss Spekulation bleiben. Was im Probenraum passiert, muss nicht in allen Details ans Licht der Öffentlichkeit geraten. So viel Schutz darf der künstlerische Prozess verlangen. Und doch fragt man sich, was für „Dynamiken und Differenzen“ von einem solchen Abend zu erwarten gewesen wäre – ganz unabhängig von denen, die es nun offenbar gegeben hat.

Benny Morris lesen, nicht Shibli!

Der Ankündigungstext beginnt mit den Worten: „Es ist August 1949 in der Negev-Wüste, nahe der heutigen Grenze zum Gazastreifen. Ein Jahr ist seit der Nakba vergangen – der Katastrophe, die zur gewaltvollen Vertreibung und erzwungenen Ausweisung von über 700.000 Menschen aus Palästina führte.“

Ist es symptomatisch, dass an dieser Stelle die Staatsgründung Israels ebenso wenig erwähnt wird wie die Kriegserklärung der arabischen Staaten und deren Ablehnung des UN-Teilungsplans? Dass nur das Geraune über die Katastrophe der Nakba bleibt, für die Shibli nach Worten suche, „um das Unbeschreibbare zu beschreiben“? Und natürlich auch um „hegemoniale Narrative“ zu hinterfragen? Müsste man nicht zuallererst das unter Palästina-Fans hegemoniale Narrativ hinterfragen, dass die 700.000 Palästinenser vom bösen Tätervolk der Juden vertrieben wurden, statt größtenteils vor einem von den arabischen Staaten begonnenen Krieg zu fliehen? Wer sich dafür wirklich interessiert, muss den Historiker Benny Morris lesen, nicht Shibli.

Wer dann noch auf die Besetzung von „Eine Nebensache“ schaut, trifft dort mit Karim Daoud und Maryam Abu Khaled genau auf jene Schauspieler, die für die Plakataktion des Gorki-Theaters mit Kufiya posierten. Und so dem Theater – letztlich übers Ziel hinausschießende – Antisemitismusvorwürfe der Gruppe „Artists Against Antisemitism“ bescherten.

Daoud und Khaled treten seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder offensiv gegen die um Ausgleich bemühte Linie der Gorki-Intendantin Langhoff auf. So sagte Daoud, das Theater sei eine Enttäuschung und habe die Seite der Okkupation gewählt. „Wie kann das immer noch geschehen? Auf der Seite des Unterdrückers und auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen?“ Und Khaled äußerte sich: „An der Seite Israels zu stehen, war eure Entscheidung, aber ich kann die Respektlosigkeit und Ignoranz nicht akzeptieren, die sich darin gegenüber der anderen Seite zeigt, mein Volk und meine Familie eingeschlossen, die in konstanter Angst leben.“

In einem englischen Instagram-Post schreibt Khaled nun, die Premiere von „Eine Nebensache“ „has been canceled“. Das könnte zweierlei meinen: abgesagt oder gecancelt. Für ihre Follower ist es klar die zweite Deutung. Viele schreiben „Free Palestine!“ oder „Shame on Gorki“.

Auch der Regisseur Oliver Frljić, Hausregisseur am Gorki und als wenig feinmotorischer Provokateur bekannt, beschwerte sich bereits im Sommer 2024 in der „Berliner Zeitung“ wie folgt: „Seit Beginn des Krieges in Gaza und Israel hatte ich die Gelegenheit, das gesamte Arsenal der institutionellen Zensur zu erleben, mit dem jede kritische Meinung, die nicht mit der deutschen Staatspolitik übereinstimmte, von vornherein getötet wurde.“ Im Frühjahr zeigte Frljić mit „Incubator“ eine Inszenierung in Ljubljana, in der es um den Angriff der israelischen Armee auf das Al-Shifa-Krankenhaus im Gazastreifen geht. Kritiken bescheinigten dem Abend, dass er einen Skandal auslösen könnte, da er eindeutig eine starke Haltung zugunsten Palästinas und gegen Israel einnehme, und niemals am Gorki-Theater hätte gezeigt werden können.

Was also hätte man von „Eine Nebensache“ am Gorki-Theater erwarten können? Mit Blick auf die Beteiligten vielleicht einen in seiner Einseitigkeit wirklich skandalösen Abend. Vielleicht. Sicherlich eine Fortsetzung der Debatte um das Buch, das der Schriftsteller Maxim Biller ein „unliterarisches Stück Propaganda“ nannte. Dass der Theaterabend in der Hinsicht zum Buch gepasst hätte, wäre jedenfalls auch vorstellbar.

So bleibt am Ende der Eindruck einer Absage mit Ansage. Und dazu die verwunderte Feststellung, dass es im Theater „Dynamiken und Differenzen“ gibt, die nicht bühnentauglich sind. Das wiederum macht neugierig. Vielleicht wäre ein Stück über die Proben zur gescheiterten Premiere mit all den Dynamiken und Differenzen interessanter gewesen als das, was die Beteiligten mit Shiblis „Eine Nebensache“ vorhatten.

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