Was ist das für ein Film und was ist das für eine Zeit, in die er mit Krach und Glitzer hineinknallt? Und das schon zum zweiten Mal. Denn Regisseur John M. Chu besaß die Verwegenheit, seine Musical-Adaption „Wicked“ in zwei Teile aufzuspalten und seine Fans ein Jahr lang auf die Fortsetzung „Wicked: For Good“ warten zu lassen.

Überlänge besitzt auch das neue Kinospektakel über die gute Hexe des Südens und die böse Hexe des Westens, die einst Freundinnen waren und jetzt durch äußere Umstände zu Feindinnen wurden. Wo sich der erste Teil noch weitgehend in der Realität von Schule und Familie verankert sah, dabei manchmal an „Harry Potter“, manchmal an „Charlie und die Schokoladenfabrik“ erinnerte, verliert die Fortsetzung nun jegliche Bodenhaftung: Abgesehen von Glindas Hochzeit mit Prinz Fiyero (Jonathan Bailey) schweben die Figuren fast ausschließlich in isolierten Zwiegesprächen durch den Kosmos. Alice Brooks Kameraeinstellung sind virtuos, sie lichten eine Welt ab, die jegliche Weltlichkeit aufgegeben hat.

Ein Film wie eine pinke Seifenblase, die zwar manchmal platzt, aber nur eine Sekunde später schon wieder im grellen Sonnenlicht schimmert. Ein Leinwand gewordener Drogentrip, der mit schrillen Farben, fliegenden CGI-Affen und chorischen Tanz- und Gesangseinlagen so berieselt und betört, dass irgendwann völlig egal ist, wer hier wen verfolgt, wer eigentlich wen liebt, und wer am Ende tot ist und wer triumphiert. Grün oder pink? Hauptsache Zuckerwatte! „Wicked“ ist Eskapismus pur, die ultimative Flucht aus einer kriegs- und krisengeschüttelten Gegenwart. Ein Film, der durch seinen Event-, Ereignis- und Spektakel-Charakter mehr auf Überwältigung setzt als auf alles andere. „Glaub mir, es ist schwer zu widerstehen, denn es fühlt sich wunderbar an“, kommentiert der Zauberer von Oz trällernd das eigene Prinzip.

Die Marketingmaschine läuft auf Hochtouren: Zur Presse-Vorführung werden grüne und pinke Drinks angeboten, Zuschauer verkleiden sich als Glinda oder Elphaba, und auf TikTok verbreiten sich Vorher-Nachher-Videos mit Tränen verschmierten Gesichtern. Auf dem roten Teppich inszenieren sich die beiden Hauptdarstellerinnen Ariana Grande und Cynthia Erivo so vertraut, dass die Gerüchteküche über ihr Verhältnis schon seit Monaten am Brodeln ist.

Politische Amerika-Parabel

So kann man es sehen. So aber auch: Wenn Elphaba – anders als im Broadway-Erfolg – von der Heimat singt, die wie kein anderer Ort sei und daher verteidigt werden müsse, lässt sich der darin enthaltene Aufruf zur Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit kaum ignorieren. Zu fliehen, um nicht kämpfen zu müssen, kritisiert die Hexe als minderwertige Option. Von einer Frauenfreundschaft, die nicht einmal durch die Liebe zum selben Mann getrübt wird, erzählt dieses Musical und ist darin ebenso feministisch-zeitgeistig wie in seiner Kritik an Massentierhaltung, Minderheiten-Unterdrückung, Instagram-Aktivismus, Propaganda und Staatsanbiederung.

Die 125 Jahre alte Geschichte des Zauberers von Oz, die vom Kinderbuchklassiker zum beispiellosen Filmhit aufstieg– einem der ersten Farbfilme und UNESCO-Weltdokumentenerbe – hat nichts an Aktualität eingebüßt. Regisseur John M. Chu und sein Drehbuchduo Winnie Holzman und Dana Fox belohnen die amerikanischen Kinder und ehemaligen Kinder, die den „Zauberer von Oz“ im Schlaf aufsagen können, mit allerlei Vorgeschichtsverletzungs-Ostereiern, die die Genese verschiedener im „Zauberer“ wichtig werdender Nebenfiguren erklären.

Zehn Oscarnominierungen und zwei Auszeichnungen für das beste Kostüm und das beste Produktionsdesign heimste die Hexen-Parabel über die Entstehung von Gut und Böse im vergangenen Jahr ein. Mit einem erneuten Preishagel ist zu rechnen. „Wicked 2“ ist mehr noch als „Wicked 1“ ein Film, den man fühlt oder eben nicht fühlt. Doch selbst Zuschauer der zweiten Kategorie kommen nicht umhin, anzuerkennen, dass der Zweiteiler handwerklich in jeder Hinsicht zauberhaft gemacht ist. „Schön“, das wissen Elphaba und Fiyero, kann ja ohnehin alles sein, es kommt nur darauf an, wie man es sieht – und fühlt.

„Wicked: For Good“ läuft ab dem 20. November im Kino.

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