Im Dezember ist er geboren, aber eigentlich ist Haftbefehl ein Novemberkind. Dieser nasskalte Monat, der kahle Bäume und Melancholie hinterlässt, ist der Monat, in dem die Dämonen des Rappers zu tanzen beginnen. „Warum kommt das Album denn schon wieder im Winter?“, fragte er sich vor zehn Jahren auf seinem populären Song „069“, um dann im nächsten Satz die Antwort zu geben: „Das ist Räubermusik und da wird’s früher dunkel, was ’ne Frage, behindert?“

Dieser Räuber ist in seinem neuesten Song „Dünya garip“ (zu Deutsch: Die Welt ist seltsam) wieder ganz bei seinem Kernthema angekommen: Konfusion und Schwere. Es ist der erste veröffentlichte Song seit der viel beachteten Netflix-Dokumentation, in der „Hafti“, bürgerlich Aykut Anhan, Einblicke in seine kaputte Psyche und Drogeneskapaden gegeben hat. Es ist nicht so, dass man aus seinen Liedern nicht hätte ableiten können, hier einen kleinkriminellen, depressiven Drogenjunkie zu hören. Aber wie schlimm es wirklich um ihn steht, war dann doch faszinierend. Die ramponierte Nase von den vielen Gramm Koks täglich, die er seit der Dokumentation hinter einer Maske versteckt, ist der Beweis für ein selbstschädigendes Leben. „Babo – Die Haftbefehl-Story“ wurde allein in den ersten 13 Tagen laut Netflix 5,9 Millionen Mal abgerufen.

„Dünya garip“ ist der erste Song, den Haftbefehl rein auf Türkisch singt. Bislang war er mit einem „Ghetto-Esperanto“ aufgefallen, das sich aus dem Kurdischen, Französischen, Arabischen und Deutschen zusammensetzt. Diese Bündelung von Subkultursprachen war so stilprägend, dass auch heute noch Schüler- und Lehrervereinigungen darüber diskutieren, ob man Haftbefehls Texte nicht auf den Lehrplan setzen sollte. Haftbefehl hat eine türkische Mutter und einen kurdischen Vater, dessen Suizid ihn bis heute verfolgt. Dass er jetzt ins Türkische wechselt, lässt sich natürlich deuten. Die Türkei war schon mal Aykut Anhans Zufluchtsort, als alles den Bach runterging. Nachdem er als Teenager aus dem Jugendknast entlassen wurde, zog er danach für ein paar Jahre nach Istanbul. „Das war eine Flucht vor allem“, sagte Haftbefehl kürzlich gegenüber der „Zeit“. Hier, in den Schluchten der Millionenmetropole, kommt er vermutlich das erste Mal ins Nachdenken, was ihn überhaupt in diese aussichtslose Lage gebracht hat.

Ja, die Welt ist seltsam, erst recht, wenn der Vater nicht mehr lebt, das Strafregister voll ist, der Drogenkonsum hoch, und die Perspektive düster. „Mich hat immer die Musik gerettet“, sagt Haftbefehl im Sprachnachrichten-Interview mit der Wochenzeitung: „Auch damals in Istanbul. Das soll ein Ansporn sein für Jugendliche, dass sie was schaffen können. Dass sie Lehrern wie meinen früher nicht glauben sollen, die sagen: Aus dir wird nichts. Findet raus, wofür ihr brennt. Bleibt am Ball, Jungs, glaubt an euch, Mädels.“

Musikalisch ist die Selbstaffirmation von Haftbefehl aufgegangen. Er wurde, nachdem er planlos in Istanbuls Gassen umhergeirrt war, zur größten Deutschrap-Sensation in Deutschland, zum Multimillionär auch. Aber selbst im größten Erfolg bekam er die Geister der Vergangenheit nicht aus dem Kopf, musste in einer Art freudschen Wiederholungszwang das Schicksal seines Vaters wiederaufführen. Mit jeder Line Koks arbeitete Haftbefehl weiter auf den eigenen Tod hin. Bis irgendwann gar nichts mehr ging: Hustenattacken, Röcheln, Herzstillstand, fast tot. Wahrscheinlich hat die Dokumentation ihn auch gerettet. Vor der Kamera, vor einem Publikum erinnerte er sich ja schon immer wieder daran, wofür er lebt: für seine Musik, für den Wunsch, doch noch geliebt zu werden.

Dass er jetzt also auf Türkisch singt, kann als seine Empfindung gelesen werden, wie damals in Istanbul wieder von vorn anfangen zu müssen. Nein, anfangen zu dürfen, denn so ging es ja nicht weiter. Seine Frau Nina Anhan soll, zermürbt von Haftbefehls Drogeneskapaden, schon den Ehering abgelegt haben. „Ich bin jetzt nicht alleinerziehende Mutter, aber fast schon“, klagte sie in der Netflix-Dokumentation. Seitdem zeigt sich Haftbefehl wieder häufiger mit den Kindern im Internet. Und musikalisch umtriebig wie lange nicht.

„Ich habe es nicht einmal bemerkt. In Europas Straßen wurde unsere Jugend vergiftet“, singt Haftbefehl auf „Dünya Garip“ in einem Türkisch, das offenbart, dass er nicht in der Türkei aufgewachsen ist. Es ist ein „Almanci-Akzent“, der aber gerade zum Text passt: „Eines Tages kam ein Bruder. Er habe seine Heimat vermisst.“ Die vor Schmerz triefende Ballade dürfte bei Haftbefehl-Fans voll einschlagen, weil sie ihnen bestätigt, was sie vorher schon wussten: Dass er ein sehr vielseitiger Künstler ist, der nicht nur „Auf die Fresse“-Räubermusik kann, sondern auch singen. Das auf dem Klavier begleitete Singsang-Lied „Mann im Spiegel“ aus 2013 war der erste Hinweis: „Viel zu lang glaubtest du an die Liebe. Das war dein Untergang, Mann im Spiegel.“

„Dünya Garip“ ist nun die Weiterführung mit anderen Produzenten. Seit kurzer Zeit arbeitet Haftbefehl mit dem Produzentenduo „oddworld“ zusammen, das sich zur Veröffentlichung der Single folgendermaßen zitieren lassen: „Wir haben uns entschieden, die Struktur des Songs unkonventionell zu lassen, ohne Pop-Formeln zu beachten und ohne bspw. den Refrain öfter bringen zu müssen. Es ist wie ein Soundtrack zu einem Film und die Musik soll Aykuts Stimme und die Emotion auf ein Podest stellen.“

Die größten Befürchtungen, Haftbefehl würde nicht mehr lange machen, sind vorerst nicht eingetreten. Es deutet sich an, dass er noch einmal richtig loslegt. In einem anderen Sound, in einer anderen Sprache – aber mit denselben Themen.

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