Der britische Schriftsteller Anthony Burgess ist in Deutschland vor allem durch sein Buch „A Clockwork Orange“ bekannt, das von Stanley Kubrick 1971 verfilmt wurde. Weniger bekannt, aber nicht minder lesenswert: sein grandioser Jahrhundertroman „Der Fürst der Phantome“, dessen Held, ein schwuler Schriftsteller, unter anderem Himmler unfreiwillig das Leben rettet und seinen Geliebten durch einen tamilischen Dämonenbeschwörer verliert; oder seine Romantrilogie über die letzten Tage Malayas als britische Kolonie, die der Verlag Elsinor auf Deutsch herausgebracht hat. Bei Elsinor ist in diesem Jahr auch Burgess’ Roman „Der Mann aus Galiläa“ über das Leben Jesu erschienen.

Man sieht daran: Burgess war ein wilder Genre-Mixer, der obendrein noch klassisch komponiert hat. Aber sein verrücktestes Buch war eine Lohnarbeit – und auch noch kommerziell erfolgreich. 1966 bekam er vom Verlag Faber & Faber den Auftrag, „A Shorter Finnegans Wake“ zu schreiben. Die um 60 Prozent gekürzte Fassung von James Joyces auch für englische Muttersprachler extrem schwer zu lesendem Roman sollte Anfänger an dieses Werk heranführen. Burgess schrieb auch ein erklärendes Vorwort dazu. Der Verlag hatte einen guten Riecher bewiesen: „A Shorter Finnegans Wake“ ist seitdem immer wieder in neuen Auflagen erschienen.

Da lag es nahe, den Trick mit Joyces deutlich bekannterem Roman zu versuchen. Um 1970 setzte sich Burgess hin und kürzte den „Ulysses“. Laut Unterlagen von Mondadori in Mailand war das Buch für den italienischen Markt gedacht, wurde aber nie publiziert. Jetzt kommt „A Shorter Ulysses“ im britischen Verlag Galileo heraus, der 2023 die vorerst letzte Auflage von „A Shorter Finnegans Wake“ veröffentlicht hat.

Grundlage ist ein Stapel Papier aus dem von der Burgess Foundation gehüteten Nachlass: ein zerlegtes Exemplar der Penguin-Ausgabe von Ulysses aus dem Jahr 1969 (der ersten Taschenbuchausgabe). Die Seiten wurden herausgeschnitten, Teile des Textes mit schwarzem Filzstift zur Streichung markiert. Anschließend wurden die Seiten wieder zusammengesetzt, geheftet und zusammengeklebt, zusammen mit Burgess’ maschinengeschriebenem Kommentar, der den Inhalt der ausgelassenen Kapitel erläutert. Insgesamt ist der Joyce’sche Originaltext um 85 Prozent gekürzt.

Joyce gehörte zu den Autoren, die Burgess nachhaltig geprägt haben, seitdem er als Teenager zunächst „A Portrait of the Artist as a Young Man“ entdeckt hatte und ihm sein Geschichtslehrer dann aus dem Ausland den damals in Großbritannien noch wegen Obszönität verbotenen „Ulysses“ mitbrachte. Als Erwachsener schrieb er mehrere eigene Fassungen dieses Buches: 1966 verfasste er für die „New York Times“ einen unterhaltsamen Beitrag, in dem er das erste Kapitel in den Stil eines Unterhaltungsromans übertrug.

1971 berichtete er seiner Agentin Deborah Rogers, dass er den ersten Entwurf eines Bühnenmusicals auf Grundlage von Joyces Roman unter dem Titel „Blooms of Dublin“ fertiggestellt habe. Das Libretto ist nun der Erstveröffentlichung von „A Shorter Ulysses“ angehängt.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.