Claude Lanzmanns Film „Shoah“ aus dem Jahr 1985 war schon damals eine Zumutung. Neuneinhalb Stunden blickt man auf Wälder, Gras und Bahngleise, ganz ohne Musik, Erklärungen oder Archivmaterial von Nazi-Aufmärschen und Leichenbergen. Wo war das Grauen, wo der Grusel? All das interessierte Lanzmann nicht. Bei ihm nehmen die Stille und die Leere von vermeintlich harmlosen Orten Gestalt an, durch die Worte von Menschen, die den Holocaust überlebt, gesehen, geduldet oder ausgeführt haben. Ihre Worte kommen, wie sie kommen – oder eben nicht.
„Das kann man nicht erzählen; das übersteigt jede mögliche Darstellung“, sagt einer der Protagonisten. Ein anderer erklärt: „Darüber darf man nicht reden.“ Und sie reden doch. Manche bruchstückhaft, andere druckreif, erzählen sie von dem, was sie gesehen, gerochen, erfahren haben. Lanzmanns Film könnte nervenzehrender nicht sein, und er veränderte alles: Die Art und Weise, wie man dieses nicht darstellbare Verbrechen überlieferte, ohne es zu verzerren. Wie Erinnerung aussehen konnte, ohne die Ermordeten zu benutzen, indem man die Bilder ihrer bis zu Unkenntlichkeit entmenschlichten Körper filmisch zur Schau stellte. „Shoah“ gelang das Unmögliche, nämlich das, wie Lanzmann es einmal nannte, „Unbenennbare zu benennen.“
Das Jüdische Museum Berlin präsentiert in der Ausstellung „Claude Lanzmann. Die Aufzeichnungen“ nun Audioaufnahmen, die zur Vorbereitung auf „Shoah“ entstanden sind. Fast zwölf Jahre lang arbeitete der französische Journalist und Philosoph an dem Film. Er fuhr an Orte des Geschehens, nach Polen, Deutschland und Israel, sprach mit KZ-Überlebenden, SS-Kommandanten und polnischen Dorfbewohnern, teils unter falschen Identitäten und mit versteckten Kameras. Und zeigte vor allem eines: dass der Holocaust nicht nur Verschwinden erzeugt hatte, sondern selbst im Begriff war, zu verschwinden.
Viele Opfer, Täter und Mitläufer sprechen darüber wie zum ersten Mal, tasten sich mit Worten voran: Das industrielle Morden an den europäischen Juden steht als blinder Fleck im Zentrum der langen, oft schleppenden Gespräche und Bilder. Bedenkt man, dass ein Großteil der jungen Menschen weltweit heute noch nie etwas vom Holocaust gehört hat und so die Prioritäten globaler Erinnerungskulturen verschiebt, ist „Shoah“ aktueller denn je.
„Shoah“ – ein Meisterwerk der Reduktion
Claude Lanzmann wurde am 27. November 2025 in Bois-Colombe nordwestlich von Paris geboren. Der Vater war Dekorateur lettischer und weißrussischer Abstammung, die Mutter Antiquitätenhändlerin ukrainisch-jüdischer Herkunft. Schon als Jugendlicher beteiligte Lanzmann sich an der kommunistischen Jugend, kämpfte in der Résistance gegen das Vichy-Régime und die deutsche Besatzung, was ihm Zugang zu Verstecken und falschen Papieren ermöglichte, sodass er und seine Familie überlebten. Das hielt ihn nicht davon ab, nach dem Krieg in Tübingen und Berlin Philosophie zu studieren, seine Promotion schrieb er über Leibniz.
Er arbeitete als Lektor und Journalist, leitete das neue französische Kulturzentrum in Berlin und publizierte in der „Berliner Zeitung“, die damals dem Zentralkomitee der SED unterstand, einen Artikel über Altnazis an der Freien Universität. Zurück in Paris arbeitete er mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir an deren Zeitschrift „Les Temps modernes“ – mit der 17 Jahre älteren Beauvoir verband ihn eine rund siebenjährige Liebesbeziehung.
Lanzmann war ein linker Aktivist, schrieb aber für die „Elle“ Artikel über Prominente, um Geld zu verdienen. Angesichts des Algerienkrieges engagierte er sich für Antikolonialismus – doch dann kam 1967 der Sechstagekrieg und veränderte alles. Es war, als holte die Gefahr aus der Nazizeit die Juden in Israel wieder ein. Lanzmann, der kein Hebräisch sprach und nicht mit jüdischer Kultur aufgewachsen war, wandte sich dem Dokumentarfilm zu und drehte 1973 „Warum Israel?“, der erklärt, warum das jüdische Volk einen Nationalstaat benötigt.
Anschließend begann er mit den Arbeiten für „Shoah“. Was eigentlich als Auftrag der israelischen Regierung begann, wurde zu einem Mammutwerk, dessen Aufwand niemand absehen konnte. Als Israel den Geldhahn zudrehte, fand Lanzmann immer wieder neue private Förderer. Woher er die unbändige Energie dafür nahm, begreift wohl nur, wer ihn als Lebemann kannte, dem jede Art von Zurückhaltung ein Graus gewesen sein muss. Umso erstaunlicher, dass „Shoah“ ein Meisterwerk der Reduktion wurde.
Lanzmann starb 2018, überhäuft mit Ehrungen, zu denen der Oscar nicht gehörte. Die Verkitschung des Holocaust durch Hollywood war ihm ein Gräuel: „Fiktion ist eine Grenzüberschreitung, und es ist meine tiefste Überzeugung, dass jede Darstellung [des Holocaust] verboten ist“. Den Film „Schindlers Liste“ kritisierte er, „Das Leben ist schön“ muss ihn zur Weißglut getrieben haben, und was hätte er wohl zu „Zone of Interest“ und „Die Fotografin“ gesagt, die aus dem Zuschnitt auf ein triggerwarnungsgewohntes, aber nicht sonderlich informiertes Publikum keinen Hehl mehr machen?
Intensive Stille
Das Jüdische Museum Berlin treibt nun Lanzmanns Minimalismus auf die Spitze. In der Ausstellung sind 90 Sequenzen aus 220 Stunden Audiomaterial zu hören. Ergänzt werden sie um Filmmaterial, unter anderem ein Interview der Kuratorin Tamar Lewinsky mit Lanzmanns beiden Mitarbeiterinnen, ohne die der Film so nicht zustande gekommen wäre.
Mit Kopfhörern kann man sich frei durch den Raum bewegen, wo Monitore mit Transkriptionen und Übersetzungen aufgestellt sind. Sobald man sich einem Monitor nähert, ertönt automatisch die entsprechende Aufnahme, was einen räumlich in den Bann zieht – man spürt, wie eindringlich es ist, sich allein dem Hören hinzugeben und nicht durch Bilder abgelenkt zu werden. Basierend auf alten Kompaktkassetten, war die Tonqualität eine Herausforderung für die Kuratorin.
Hinzu kam, dass der Rekorder oft in der Tasche versteckt und schon im Auto eingeschaltet war, um keinen Verdacht zu erregen, denn Lanzmanns Hausbesuche fanden ohne Vorankündigung statt. Wie geschickt er seine Fragen stellte, um die Leute zum Sprechen zu bewegen, zeigt etwa sein Besuch bei dem ehemaligen SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer. „Wir Deutschen haben die Nase voll“, sagt der, nachdem Lanzmann ihm um den Bart gestrichen ist.
Ein Kapitel in der Schau zeigt Geschichten von Personen, die den Filmaufnahmen nicht zugestimmt oder wieder abgesagt haben. „Unser Bestand hat kaum Überschneidungen mit den Aufnahmen von ‚Shoah‘, präsentiert also die viel breitere Recherche, in die Lanzmann sich hineinbegeben hat“, sagt Lewinsky. Da ist etwa Ilana Safran, eine der wenigen weiblichen Überlebenden von Sobibor, die beim Häftlingsaufstand entkam, das Gespräch findet in Israel statt.
Man merkt, dass sie eigentlich nicht sprechen will, erzählt dann schließlich doch, nur um für den Film schließlich abzusagen, sie wollte nicht in die Öffentlichkeit. Als Zeugin saß sie 1965 in Hagen beim Sobibor-Prozess den Tätern gegenüber, schaffte es jedoch nicht, sie anzuschauen und damit zu identifizieren. „Mir ist egal, wenn die auf freiem Fuß sind“, sagt sie, „die Deutschen müssen mit ihnen leben.“
Oft nimmt man bei den Aufnahmen nur eine intensive Stille wahr, dazu Atmen, Bewegungen, Geschirrklappern, Kinderstimmen. Lewinsky erklärt: „Es geht darum, genau zuzuhören und zu verstehen, was zwischen dem Gesagten passiert.“ Erstaunlich ist auch, wie jung die Zeitzeugen klingen – die Aufnahmen entstanden zwischen 1974 und 1978, als viele von ihnen kleine Kinder hatten und Berufen nachgingen. Dass diese Ausstellung, die zum 100. Geburtstag Lanzmanns eröffnet, ihre Stimmen am Leben erhält, einen aber auch ihre Stille aushalten lässt, ist mehr als ein „Making-of“ von „Shoah“. Es ist ein Zuhören gegen das Vergessen – der Schoah selbst und von Lanzmanns Film, um den es in letzter Zeit unheimlich still geworden ist.
„Claude Lanzmann. Die Aufzeichnungen“, bis 12. April 2026, Jüdisches Museum Berlin
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.