Der Mann, der für den dunklen, urgrünen Wald um ihn herum eigentlich zu groß ist, wirkt fast klein, zerbrechlich, sehnig, federnd wie ein Springmesser. Wie er da Holz hackt. Man sieht ihn von hinten. Ohne Gesicht. Vor seiner Hütte. Man hat ihn vermisst. Er war der Welt abhandengekommen. Absichtlich. Aus Gründen. Seit genau acht Jahren.
Es gibt ein paar Dinge, in denen sich die Leben des Daniel Day-Lewis und des Ray Stoker, den Day-Lewis in „Anemone“ spielt, schon sehr gleichen. Nach „Der seidene Faden“, Paul Thomas Andersons vergifteter Liebesgeschichte, hatte sich der dreifache Oscar-Gewinner 2017 von der Schauspielerei verabschiedet. Es wurde ihm alles zu viel.
Nicht das Schauspielen. Das Drumherum, die Interviews, das Vermarkten, alles, was nichts mit seiner eigentlichen Berufung zu tun hat. Schreinern soll er gelernt haben – seitdem. Wie er Schustern gelernt hat während der ersten Auszeit, die er sich um die Jahrtausendwende genommen hatte.
Ray Stoker, der aussieht wie der versprengte, ältere, nordenglische Bruder von Day-Lewis’ Figur Bill „The Butcher“ Cutting in „Gangs of New York“, hat andere, wahrscheinlich existenziellere Gründe für seine Weltflucht. Seine Frau hat er verlassen, seinen Sohn. Um einen Kreislauf der Gewalt zu zerbrechen, an dem er zerbrochen ist, an dem alle zerbrochen wären, eine Mechanik, von der er ahnt, dass seine schiere Anwesenheit in so etwas wie einer Familie dafür sorgen würde, dass sie weitergeht.
Gewalt – davon ist Ray Stoker überzeugt, der missbraucht wurde vom Priester, vom Vater, der sich in Nordirland schuldig machte im Kampf gegen die IRA – überträgt sich. Ob man will oder nicht. „Anemone“ steht auf einem Zettel für den Notfall. Ein paar Koordinaten stehen auch da. Da wäre er – mitten im Wald von Yorkshire – zu finden für den Bruder.
Der heißt Jem. Sean Bean, der Boromir war im „Herr der Ringe“ und einer der unterschätzten Charaktermimen ist, spielt ihn. Jem, dessen Gesicht ist wie die Borke von Eichen, spricht ein Gebet, bevor er losfährt mit dem Motorrad am Anfang von „Anemone“. Rays Sohn Brian, vor dem er geflüchtet ist, steckt in Schwierigkeiten.
Jem lebt mit Brian und dessen Mutter Nessa in einem prekären Eigenheimviertel. Die Gewalt ist aus ihm herausgebrochen. Er ist beim Militär wie der Vater, den er hasst, ohne ihn zu kennen. Wie der Onkel, dem er ein Fremder bleibt. Das mit dem Durchbrechen des Gewaltkreislaufs hat nicht funktioniert.
„Anemone“ – der Titel ist das Weiblichste an diesem Männerfilm – ist die Geschichte von Traumata und wie sie weiterwirken über die Generationen: vom Missbrauch, vom Krieg und wie Seelen verbogen werden, von den Folgen von Gewalt, vor denen man nicht fortlaufen kann, von Soldaten, die allein gelassen werden mit den Wunden, die ihnen zugefügt werden. Nicht den physischen – allein gelassen werden sie mit den Wunden am Herzen und am Hirn. „Anemone“ ist ein Film über Männlichkeit und wovon sie vergiftet wird.
Ein doppelbödiger Vater-Sohn-Film: Ronan Day-Lewis, der Künstler ist und Filmemacher, Sohn von Day-Lewis und der Regisseurin Rebecca Miller, hat seinen Vater für seinen Debütfilm zurück auf die Leinwand gebracht. Beide haben gemeinsam das Drehbuch geschrieben. Was vielleicht zu jenen beiden Monologen von Daniel Day-Lewis führte, für die sich jeder Kinogang zur „Anemone“ lohnt.
Eine Blume ist es, die da, wo Ray sie züchtet, wie er es vom verhassten Vater gelernt hat, im Dunkeln, in der Nässe, gar nicht wachsen dürfte. Ray sitzt da in seiner Hütte, lange hat er sich mit Jem angeschwiegen. Er erzählt vom Priester, dem er – Jem blieb davon so unbehelligt wie von den Brutalitäten des Vaters – zu Diensten sein musste und den er dann später heimsuchte. Nach einer Curry-Diät und mit vollem Magen und Darm. Auf dem er dann – schön sind an „Anemone“ nur die Bilder – den Inhalt seines Verdauungstraktes entleerte. Aus Rache. Um sein Trauma hinter sich zu bringen.
Zwei unfassbare Monologe
Er erzählt vom Tag, an dem alles schiefging. An dem er einem Bombenbauer der IRA folgte und seinem kindlichen Helfer. Wie dann alles explodierte. Er tat, was er – und wahrscheinlich jeder von uns allen – für menschlich hielt. Was dann als Kriegsverbrechen galt. Dann sitzt er da. Am Meer. Und erzählt davon. Man möchte nicht tragen, was er zu tragen hat und möchte nicht heimkommen damit. Möchte sein Kind schützen. Was Daniel Day-Lewis mit den Sätzen tut, die Rays Sätze sind und seine werden, ist ziemlich unfassbar.
Ronan Day-Lewis hat ein besonderes Auge für die Spiegelung der Seele in der Natur. Am Himmel, der ist wie Hirnmasse, wo sich Stürme von biblischer Energie zusammenballen. Im Wald, der ist wie die geschichtenvollen Gesichter (und die Gesichter sind wie der Wald). Immer wieder geistern im Mischforst von Yorkshire hyperreale Wesen herum, wie sie durch die Kunstwelt von Ronan Day-Lewis geistern.
Den Ausbruch des Surrealen, das Pferd mit menschlichem Antlitz, der Gigantofisch, der tot durchs Tal der Anemonen schwimmt, die Hagelkörner, die vom Himmel stürzen wie die Frösche in Paul Thomas Andersons „Magnolia“, hätte es gar nicht gebraucht. Man kann nicht nur von Männlichkeit, sondern auch von Metaphern vergiftet werden.
Dann tanzen sie, Bean und Day-Lewis, in Rays Hütte Pogo. Dann kommen sie sich ohne Worte nahe. Gehen ins Meer. Schwimmen. Prügeln sich. Feiern ihre Körperlichkeit, wie es aus Furcht vor der Ausstellung von Männlichkeit inzwischen selten geworden ist. Dann finden die Day-Lewis’ ein Ende, das so schön ist, wie der Himmel nie war. Und doch nur ein Anfang ist.
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