In den Morgenstunden des 12. Juli 1983 ereignete sich die größte Massenflucht aller Zeiten aus der DDR: Durch eine falsch gestellte Weiche am Bahnhof Friedrichstraße bog eine Ost-S-Bahn unplanmäßig nach West-Berlin ab, 127 Passagiere fanden sich plötzlich in der kapitalistischen Freiheit wieder.
Nie davon gehört? In Geschichte mal wieder nicht aufgepasst? In dem Film „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ sieht man eine S-Bahn plötzlich abbiegen und in Richtung Westen davonrattern. Es ist eine Spielzeugeisenbahn. Es handelt sich um ein Märchen. Der Autor Maximilian Leo hat es für seinen gleichnamigen Roman erfunden, der Regisseur Wolfgang Becker in seinem neuen Werk in Szene gesetzt. Doch Vorsicht! Um das Ereignis geht es Becker nur am Rande – sondern darum, was in unserer kollektiven Erinnerung daraus wird.
Beckers Film spielt 2019, Jahrzehnte danach. Die Zeiten für den Videothekenbesitzer Micha sind mies (und er hat noch keine Ahnung davon, wie mies sie kurz darauf werden würden, in der Pandemie, die den meisten Videotheken den Garaus gemacht hat), er ist mit den DVDs und dem Aufsteller seines alten Schwarms Sophie Marceau meist allein im Laden, und die ungeöffneten Mahnungen stapeln sich.
Als schließlich doch ein Kunde durch die Tür tritt, will der keine DVD. Es ist ein Magazinreporter, der in alten Stasi-Akten eine Entdeckung gemacht hat: diesen Michael Hartung eben, einst stellvertretender Stellwerkmeister bei der Reichsbahn, der damals die Weiche umgelegt hat, in einem Akt des Widerstands gegen das Regime. Ein unbesungener Held, und der Reporter will ihn zum dreißigjährigen Mauerfalljubiläum besingen und selbst auf der Karriereleiter klettern.
Hartung jedoch scheint nicht scharf darauf zu sein, aus dem historischen Dunkel ins Rampenlicht der Gegenwart zu treten. Aber was soll’s, ihn drücken Schulden, und als der Reporter mit fetten Schecks winkt, schmilzt seine Unwilligkeit. Er landet auf der Titelseite des Magazins und dem Cover eines Buches, findet sich in Talkshows wieder, wird zum Abendessen beim Bundespräsidenten geladen – und soll schließlich gar die Festrede zum Jubiläum im Bundestag halten.
Nun ist es mit Michael Hartung allerdings wie mit diesem Alexander Kerner in Wolfgang Beckers größtem Erfolg „Good Bye, Lenin!“, der seiner kranken Mutter nach der Wende etwas vorgaukelt, was es gar nicht gibt, eine intakte DDR nämlich. Auch den mutigen Vize-Stellwerksmeister hat es nicht gegeben, aber Geschichte braucht eben Helden, und so lässt Micha sich feiern, es ist bequem so, für die Öffentlichkeit, für die Politik und nicht zuletzt für Micha selbst.
„Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ handelt von Legenden und wie sie entstehen und wie sie überdauern, wenn sie allen passen. Der schönste Film zum Thema Legende ist John Fords Spätwestern „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“, in dem James Stewart Karriere macht, weil er einen gefürchteten Banditen erschossen hat – erschossen haben soll. Ein Zeitungsreporter weiß, dass das gar nicht stimmt, verzichtet aber auf die Enthüllung, er ist geschichtserfahren: „Wenn die Legende zur Tatsache wird, drucke die Legende“ sagt er, denn was ein Mord aus dem Hinterhalt war, hat dazu beigetragen, dem Wilden Westen etwas Zivilisation zu bringen.
Der Becker ist eine moderne Variante von Ford, die weiß, dass das ein Jahrhundert später im Jahr 2019 natürlich nicht mehr so funktionieren kann. Es gibt viel zu viele Interessengruppen, und die treten bei Becker auch alle in Aktion: die Politik auf der Suche nach historischer Bestätigung, die Medien in ihrer Sucht nach Sensationen, die Ex-Dissidenten im ewigen Loop der Vergangenheitsbeschwörung und -bewältigung und selbst die Stasi, die auf idyllischen Seegrundstücken alte Geheimnisse hütet.
Es lässt sich kein klügerer Film als Beckers „Held“ zur aktuellen Lage der Bundesrepublik denken, die im Zelebrieren ihrer Vergangenheiten gefangen ist, sei es der sozialistischen oder der nationalsozialistischen. Er ist nicht nur klug, sondern auch weise, denn er relativiert den zynischen Spruch „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat“. Becker stellt nicht in Abrede, dass es grundlegende Tatsachen gibt, aber er definiert die sogenannte historische Wahrheit als einen Flickenteppich, der nicht allein von den Siegern gewoben wird, sondern von vielen, den Siegern, den Verlierern und den Mitläufern.
Vor allem aber ist es ein „Wolfgang-Becker-Film“. Angesichts eines Gesamtwerks, das nur fünf Langfilme in mehr als drei Jahrzehnten umfasst, sollte man glauben, dass es schwierig sei, eine Marke „Becker“ zu definieren. Aber nein, man erkennt einen Becker-Film einfach daran, dass der Regisseur all seine Figuren irgendwie mag: den Micha, der eher ein Dulder als ein Macher ist; den Reporter, der im Hamsterrad der Aufregungserzeugung steckt; den Alt-Oppositionellen, der sich als Zeitzeuge ein Zubrot verdient; die Staatsanwältin, die als Kind mit jener S-Bahn in den Westen gelangte und Micha idealisiert; ja selbst den pensionierten Stasi-Oberst, der seinen Bedeutungsverlust mit einer fetten Wampe kompensiert hat.
Der „Held“ ist ein zutiefst altmodischer Film. Altmodisch in seiner Sympathie für alle Figuren und ihre Unzulänglichkeiten und in seiner fürs heutige Kino raren Absenz jeglichen Zynismus’. Es ist eben nicht der handelsübliche „Aufstieg und Fall eines Helden“. Schätzen wir uns glücklich, dass Becker diesen Stoff schnell gefunden hat, dass er ihn trotz seiner fortgeschrittenen Krebskrankheit zu Ende drehen konnte, dass er in dem Regisseur Achim von Borries einen Kollegen fand, der ihn in seinem Sinn fertig bearbeitet hat. Nicht zuletzt ist der „Held“ ein Ehemaligentreffen alter Beckerianer, von Daniel Brühl, Jürgen Vogel, Christiane Paul und Peter Kurth, plus den wunderbaren Neuling Charly Hübner, in dessen Micha sich ganze Ossi-Zeitläufte eines mehrfach verhagelten Lebens treffen.
Die Berlinale hätte diesen Film gerne für den Februar gehabt, so wie sie vor 22 Jahren auch „Good Bye, Lenin!“ zeigte, aber die X-Filme-Produktion entschied sich für einen Kinostart jetzt im Dezember, und das war richtig: Lange hat es keinen so witzigen, melancholischen, versöhnlichen Weihnachtsfilm (in dem Weihnachten gar nicht vorkommt) gegeben wie den „Held vom Bahnhof Friedrichstraße“.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.