Sagt ein Jude zu einem Deutschen: „Was für einen Juden hätten sie denn gerne?“ Was wie ein Witz klingt, ist der höchst ergiebige Stoff von gleich zwei neuen, abendfüllenden Theaterkomödien an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Sowohl in „Sabotage“ von Yael Ronen als auch in „Play Auerbach!“ von Avishai Milstein wird das deutsche Erinnerungstheater mit jüdischem Humor auseinandergenommen. Doch während man in Berlin nur vorsichtig in der „German Guilt“ herumstochert, wird in München ein wahres Pointenfeuerwerk abgebrannt, das einem unter die Haut geht.
In „Sabotage“ geht es direkt zur Sache. Keine zehn Minuten, um von Auschwitz nach Gaza zu kommen. „Ich darf das, ich bin Jude“, sagt der von Dimitrij Schaad gespielte jüdische Dokumentarfilmer Jona Lubnik, der wie das Lookalike eines Woody-Allen-Stadtneurotikers mit Hornbrille und Cordjackett aussieht.
Lubnik erzählt dem Publikum einen Witz: Ein Rabbi überlebt Auschwitz, seine ganze Familie wird ermordet. Hätte schlimmer kommen können, sagt er, immerhin waren wir nicht die Täter. Niemand lacht. Und auch Lubnik ist nicht mehr zum Lachen zumute, wegen des „Völkermords“ in Gaza.
Lubniks Leben ist aus den Fugen geraten. Seine Familie – der Vater lebt in Russland, während die Mutter aus der Ukraine nach Israel geflohen ist, wo sie einen palästinensischen Lover hat – steht unter geopolitischem Dauerstress. Und als wäre das nicht genug, fragt sich Lubnik mit Blick auf Gaza, ob er nur Mitläufer oder bereits Mittäter ist. Jedenfalls kein Held wie Oskar Schindler, wie er es sich immer erträumt hat. Das will er ändern – und einen Film über den jüdischen Gelehrten Jeschajahu Leibowitz machen. Der sprach bereits seit den 1960er-Jahren von „Judeo-Nazis“ und „israelischen KZs“.
Während Lubnik an seinem Coming-out als jüdischer „Israelkritiker“ arbeitet, ist seine deutsche Frau (Carolin Haupt) wenig angetan von dem plötzlichen moralischen Selbstfindungsabenteuer. Im Kunstbetrieb mag es für ästhetisch schlecht verpackte Attacken auf den jüdischen Staat zwar Applaus geben, in ihrem Feld – sie ist eine erfolgreiche Neurochirurgin mit größeren Ambitionen – dürfte sich ein Shitstorm wegen Antisemitismusvorwürfen karrierehinderlich auswirken. Der Film sei eine „Scheißidee“, sagt sie. Und er fragt sie: „Bin ich ein antisemitischer, sich selbst hassender Jude?“
Lubnik hat jedenfalls keine Lust mehr auf seine Rolle im „Erinnerungstheater“. Er will nicht mehr „Pfeifen bei antisemitischem Abseits“ oder die Vergangenheit als Vorwand benutzen. Kann er jetzt, wo das „ewige Opfer“ Israel zum Täter wird, auch einen persönlichen Befreiungsschlag wagen? Und der Gefahr entgehen, auf der „falschen Seite der Geschichte“ zu stehen? Das alles fragt er auch seine Psychoanalytikerin (Eva Meckbach), die ihm zwar nur wenig helfen kann, aber kurz darauf mit seiner sich der freudschen Couch nur widerwillig nähernden Frau durchbrennt.
Es ist ein wilder Plot, den die Autorin und Regisseurin Ronen, 1976 in Jerusalem geboren und seit „Third Generation“ (2009) im deutschen Theater für ihre unerschrockenen Politkomödien bekannt, mit „Sabotage“ auf die Bühne bringt. Sie legt nicht nur den in Deutschland lebenden Juden Lubnik auf die Couch, sondern auch die deutsche Erinnerungskultur mit ihren „blinden Flecken“, die eher diskursive als neurobiologische Ursachen haben. Handelt es sich dabei, wie bei dem Bruder der Therapeutin (Konstantin Singer), um eine liebgewonnene Halluzination, die man nicht verlieren will? Was hier angerissen wird, erinnert ab und zu an die krude These vom „deutschen Katechismus“.
Oder ist Lubniks „moralische Panik“ am Ende nur ein Fiebertraum? Die Angst vorm Shitstorm bloß halluziniert? Man muss sich nicht auf eine Deutung festlegen, um klar festzustellen, dass „Sabotage“ eine ziemlich vorhersehbare Komödie ist, die mit ihrem verdrucksten „Stromberg“-Humor dem Publikum ein politisches Identifikationsangebot ohne jegliche Irritation macht. Zudem die auf Video eingespielten Interviewausschnitte mit Leibowitz die humorige Anlage des Abends derart unterlaufen, dass man ein parolenhaftes Programm dahinter vermuten darf. Kurz: Man hat schon besser gelacht.
Selten hingegen lacht man im Theater so gut wie bei „Play Auerbach!“ in München. Wo sich „Sabotage“ in Diskursnörgelei verhakelt, sprengt der 1964 in Tel Aviv geborene Milstein das gesamte Gelände geistiger Verrenkungen in die Luft, mit einer vollen Ladung schwarzem Humor und einer im Theater selten gewordenen angstbefreiten Unbekümmertheit. „Eine Münchner Erinnerungsrevue“ heißt die Komödie im Untertitel und Regisseurin Sandra Strunz fährt gemeinsam mit Annette Kurz für die Bühne und Sabine Kohlstedt für die Kostüme alles auf, was zur Revue gehört. Ein Hingucker!
Das Stück behandelt vordergründig das Schicksal von Philipp Auerbach. Der Auschwitz-Überlebende wurde von der Besatzungsmacht USA in Bayern als „Staatskommissar für rassisch, politisch und religiös Verfolgte“ eingesetzt und war für Zehntausende von jüdischen „Displaced Persons“ zuständig. Später wurde er vom Freistaat Bayern wegen Veruntreuung angeklagt („der größte Schauprozess der Nachkriegsgeschichte“, heißt es im Stück). Auerbach nahm sich das Leben. Er wurde zwar rehabilitiert, aber trotzdem völlig vergessen – ebenso wie seine Bemühungen um etwas wie Wiedergutmachung.
Auerbach, der wollte, dass Täter und Profiteure des Judenmords an die Überlebenden und Angehörigen zahlen, steht bei Milstein symbolisch dafür, dass das Unrecht nicht mit Taten, sondern höchstens mit schönen Worten aufgearbeitet wurde. Daran hat sich auch 100 Jahre nach dem Ende der Nazis nichts geändert: Die Rahmenhandlung spielt im Jahre 2045, in dem eine Laienspieltruppe unter Führung der überengagierten Antisemitismusbeauftragten Beate (grandios: Wiebke Puls) eine Erinnerungsrevue probt. Der Titel: „100 Jahre jüdische Rückkehr nach Deutschland“. Und die Pointe: Vom jüdischen Leben ist zu dieser Zeit in Deutschland ebenso wenig übrig wie vom Theater.
Im deutschen Erinnerungstheater spielen unter anderem Lübke, Heuss und Honecker. Doch alles gerät durcheinander, als der von Samuel Finzi zum Niederknien gut gespielte Rafael Kuhn in die Szene stolpert, der als Fernsehstar aus der Serie „Mein Nachbar, der Rothschild“ bekannt ist. Für Beate, deren geprüft „antisemitismusfreies Deutschland“ unheimlicherweise auch sehr judenfrei ist, eine maximale Provokation. Einen Juden spielen, das sei Kunst, aber ein Jude sein, das sei eine Provokation, hysterisiert sich die Beamtin mit Regiehut, die mit der Strenge einer DIN-Norm gegen Vorurteile reproduzierende Judenklischees vorgeht, jedoch selbst nichts als Klischees im Kopf hat.
Selten hat man die Erfahrungsarmut des deutschen Selbstgesprächs über Juden so pointiert aufgespießt gesehen wie in „Play Auerbach!“. Und selten wird das Publikum so direkt damit konfrontiert, dass es gar nicht anders kann, als die eigene Gefühls- und Gedankenwelt auf die Probe zu stellen, als wäre man – durchaus zutreffend – selbst Teil der grotesken Laienspieltruppe geworden. Eine so irritierende wie anregende Erfahrung, die im Publikum auch Unbehagen auslöste, weil der Abend nicht unaufhörlich verbürgt, worauf er „hinauswill“: Darf man über Antisemitismusbeauftragte lachen? Sie ist es auch, die stellvertretend gefragt wird: „Was für einen Juden hätten sie denn gerne?“
„Play Auerbach!“ ist ein Ereignis: Der Abend jongliert mindestens vier Metaebenen gleichzeitig (Finzi spielt Kuhn, der Auerbach spielt oder schon längst nicht mehr spielt), ist musikalisch fantastisch (Annika Neugart als singende Therese Giehse stülpt einem das Innerste nach Außen) und von einer außergewöhnlichen szenischen Originalität. Nicht zu vergessen das wirklich in jedem Moment überragende Ensemble! Einen solchen Ton, der von greller Komik bis zu wahrhaftiger Tragik reicht, hat im Theater lange niemand mehr angeschlagen (mit „Die Friedensstifterin“ hatte Milstein schon vor zwei Jahren eine Kostprobe im vom Documenta-Skandal erschütterten Kassel gegeben).
Während man in „Play Auerbach!“ zwischen Gänsehaut und Lachkrämpfen wechselt, weiß man wieder, wofür man eigentlich ins Theater geht. Hier wird nicht nur ein heißes Thema stellvertretend abgehandelt, sondern mit denen verhandelt, die es eben auch angeht: mit den Zuschauern. Der Humor kommuniziert, wie der Wiener Seelendoktor Freud schon vermutete, mit dem kollektiven Unbewussten, reißt Sprachlosigkeit und Hemmung mal brachial, mal subtil hinweg und ermöglicht so eine Erfahrung, die anders als bei „Sabotage“ nicht schon diskurspolitisch zugerichtet ist. „Play Auerbach!“ muss man gesehen haben. Wen interessiert schon Berlin? Nach München, nach München!
„Sabotage“ läuft an der Schaubühne Berlin, „Play Auerbach! Eine Münchner Erinnerungsrevue“ an den Münchner Kammerspielen.
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