Der Advent ist eine Zeit der Wunder – in der Geschichten erzählt werden, die eigentlich keiner glaubt. Dass Gott ein Kind wird und in einer Krippe liegt. Oder dass ein widerborstiger Mensch in Leipzig ein Oratorium schreibt, das 300 Jahre später immer noch Menschen singen. Oder dass Menschen die Geschichte jenes Oratoriums nehmen und in die schönste Weihnachtsfernsehgeschichte seit dem „Kleinen Lord“ verwandeln – „Bach – Ein Weihnachtswunder“ heißt der Film. Vergangenes Jahr verzauberte er den Advent.
Es könnte sich zu einer Tradition auswachsen. Das nächste angekündigte Weihnachtswunder beginnt in Salzburg. Da treten zwei Wunderkinder auf. Sie sind von Hof zu Hof gereist, dreieinhalb Jahre, fast ein halbes Leben lang, haben in Versailles gespielt und in London, in den Residenzen unzähliger Kleinstaaten, vor Fürsten, Königen, Kaiserinnen. Ein Zirkusunternehmen, fahrendes Volk. 44.000 Kilometer waren sie mit der Kutsche unterwegs.
„Mozart/Mozart“ heißt die Miniserie, die von den Wunderkindern erzählt, die irgendwann keine Kinder mehr waren. Wolfgang Amadeus und Maria Anna, die alle immer noch Nannerl nennen, als wäre sie – die 79 Jahre alt wurde, Kinder gebar und großzog – ein ewiges Kind.
Wobei – das genau tut „Mozart/Mozart“ eben nicht. Also die Geschichte erzählen, wie es ein Biopic täte. „Mozart/Mozart“ – geschrieben überwiegend von Andreas Gutzeit, inszeniert von Clara Zoë My-Linh von Arnim – ist eine Klabautergeschichte aus dem Geist von Käpt’n Blaubär und Sofia Coppola.
Immerhin warnt sie alle, die glauben, in den folgenden fast sechs Stunden würde Musikwissenschaft nicht weiter gedehnt als in „Bach“, vorsorglich vor. Dies ist, wird dem Sechsteiler als Trigger-Warnung vorausgeschickt, „die Geschichte der Geschwister Mozart. Nicht wie die historische Überlieferung sie schreibt, sondern die Vorstellungskraft.“
Auch „Amadeus“ gibt’s bald als Serie
Musikologen sollten besser Weihnachtsoratorium hören oder Skispringen schauen. Relativ schnell kommt einigermaßen mit Mozarts Biografie-Bewanderten die Idee, dass man dieses Märchen eigentlich mit mehreren Themenabenden flankieren müsste, damit es unter den Angehörigen der offensichtlichen Zielgruppe (Gen Z und Folgende) nicht genauso viel Schaden fürs Mozart-Bild anrichtet wie Miloš Formans „Amadeus“ (nach Peter Shaffers Theaterstück, das wiederum noch vor Weihnachten auf Sky als Serie läuft) und Falcos „Rock Me Amadeus“.
Deswegen ein bisschen Wahrheit zwischendurch. Amadeus war natürlich nicht der Vater des ersten Sohns der französischen Königin Marie-Antoinette. Und Leopold Mozart nicht der von Joseph Bologne, Beethovens Geigenkumpel aus Guadeloupe, der als „schwarzer Mozart“ in die Geschichte einging.
Amadeus war wahrscheinlich ziemlich hässlich. Hatte Pockennarben, war klein, blass, mit blöden Augen. So jedenfalls erinnert sich Ludwig Tieck an ihn. Bleich, klein, pockennarbig muss wohl auch Maria Anna gewesen sein. Das sind sie natürlich nicht in „Mozart/Mozart“. Wer sollte das sonst schon anschauen? Da sind sie Havanna Joy und Eren M. Güvercin. Schlank und federnd und magnetisch für alle 15-jährigen, die vielleicht irgendwann mal das Philharmoniker-Abo ihrer Eltern übernehmen.
Wer „Mozart/Mozart“ schaut, schaut große feministische, farbenblind besetzte Oper: die Geschichte eines mehrfachen Emanzipationsprozesses in einer historischen Umbruchzeit. Darin versucht Maria Anna sich gegen ihren fünf Jahre jüngeren und offensichtlich von Drogensucht, Burn-out und beginnendem Machismo-Wahnsinn angekränkelten Bruder zu behaupten. Denn sie war – was inzwischen selbst die angeblich so verknöcherte Musikwissenschaft bestätigt – mindestens am Klavier und vielleicht sogar im Komponieren nicht minder virtuos als das Wolferl.
Sie ist auch Mozart. Sagt „Mozart/Mozart“. Und lässt sie – weil ihr Bruder unter geradezu schumannesken Wahnvorstellungen leidet und überhaupt eine immer wieder randpeinliche Figur ist – für den Hof Joseph II. die „Entführung aus dem Serail“ komponieren. Als angebliche Volksoper aus dem Volk fürs Volk (heißt es in „Mozart/Mozart“), und als ein paar aufgepoppte Lieder, in denen auf ziemlich schicke und gegenwärtige Weise irgendwelche Mozartiana umgehen, mit denen Österreich Chancen auch für den Gewinn des nächsten ESC hätte.
Es wird furchtbar schlecht dirigiert, aber ordentlich Klavier gespielt. Es gibt fabelhafte Interieurs, elegante Bilder, Kitsch und Klischees, Intrigen. Liebeleien (Nannerl liebt Salieri, Wolferl Marie-Antoinette). Staatsaffären. Skurrile Schauspielmomente. Peter Kurth, der bei Agnieszka Holland eben noch Kafkas Vater war, ist jetzt Leopold, der väterliche Zuchtmeister und Direktor im Zirkus Mozart. Verena Altenberger, eben noch Johann Sebastian Bachs Gattin, ist Marie-Antoinette. Und alleine ihre irrwieselnden Auftritte als Hohepriesterin des Feudalismus sind jede Minute wert, die man auf sie wartet.
Vielleicht könnte sie im kommenden Jahr, im Weihnachtsmehrteiler über die letzten Jahre von Gustav Mahler, die Alma sein. Oder die Clara im Schumann-Brahms-Sechsteiler. Uns würde schon einiges einfallen. Wir würden uns auch in diesem Fall als musikhistorische Faktenchecker zur Verfügung stellen.
„Mozart/Mozart“ läuft seit dem 12. Dezember 2025 in der ARD Mediathek.
Der Artikel stammt aus der Guest Edition der WELT AM SONNTAG von Andreas Gursky, einem der berühmtesten Fotografen der Welt. Sie können dieses einzigartige Sammlerstück hier bestellen.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.