Weihnachten ist das Fest des Friedens. Chanukkah nicht, im Gegenteil. An Chanukkah – dem Lichterfest, das dieser Tage von Juden auf der ganzen Welt begangen wird – geht es um einen militärischen Sieg: Gefeiert wird der Triumph jüdischer Guerilleros, denen es im Jahr 164 v. Chr. unter Führung von Judah Makkabäus gelang, Jerusalem zu erobern.
Sie drangen in den Tempel ein, warfen die griechischen Götzenbilder auf den Schutt und wollten die Menorah wieder anzünden, den goldenen Leuchter mit den sieben Armen, der an einen riesigen Wüstenkaktus erinnert. Leider war nur noch ein kleiner Behälter mit Olivenöl vorhanden. Aber dieser Rest Öl, so erzählt die Legende, reichte dann acht Abende lang aus, um die Lichter der Menorah brennen zu lassen, vielleicht ein Symbol dafür, dass eine kleine Portion Hoffnung ausreicht, um am Ende irgendwie weiterzumachen.
In New York, einer Stadt, in der circa 13 Prozent der Einwohner Juden sind, sieht man zurzeit überall elektrische Chanukkahleuchter: in Schaufenstern, auf Verkehrsinseln im Zentrum des Kreisverkehrs, sogar im örtlichen Fitnessstudio. (Das entbehrt nicht der historischen Ironie; dazu später.) An diesem Abend hatte ich mir vorgenommen, nach Brooklyn zu fahren, um dort Sufganjot zu testen, mit Konfitüre gefüllte Krapfen; sie werden zu Chanukkah gegessen, weil es zur Tradition gehört, am Lichterfest Speisen zu essen, die in Olivenöl frittiert wurden; schließlich hätte es ohne Olivenöl keine acht zuckenden Flammen im Tempel gegeben. Als U-Bahn-Lektüre hatte ich mir eine Bibel eingesteckt. Ich wollte die Geschichte des Guerilla-Aufstandes vor mehr als 2000 Jahren nachlesen. Wie war das damals eigentlich?
Der Bösewicht der Geschichte heißt Antiochus IV. Epiphanes. „Epiphanes“ ist kein Name, sondern ein Titel: Er bedeutet „der Glorreiche“. Seine Gegner nannten ihn lieber „Epimanes“, der Verrückte, weil er zu extravagantem Verhalten neigte, Militärparaden und opulente Bankette liebte. Antiochus regierte das Seleukidenreich, den größten der Brocken, in die das Reich von Alexander dem Großen nach dessen Tod zerbrochen war: Persien gehörte dazu, Mesopotamien, aber auch das biblische Land Israel.
Eigentlich waren die Griechen tolerant gegenüber den Religionen in den von ihnen unterworfenen Gebieten. Antiochus aber begann im Jahr 168 v. Chr., einen Krieg gegen die Juden zu führen. Seine Armee massakrierte Frauen, Männer, Kinder; andere Juden wurden versklavt. Im Tempel wurde eine Statue des Zeus aufgestellt. Das seleukidische Militär richtete sich mitten in Jerusalem in einer steinernen Festung ein. Juden wurden gezwungen, Schweinefleisch zu essen, die Knabenbeschneidung wurde verboten, Juden mussten am Sabbat arbeiten. Die Unterwerfung war total.
Dann weigerte sich Mattitiahu, ein provinzieller Priester aus dem Dorf Modi’in, den griechischen Göttern zu opfern. Er tötete einen Juden, der an seiner Stelle das Opfer vollziehen wollte. Er tötete einen griechischen Offizier. Anschließend floh er mit seinen fünf Söhnen in die Berge. Ein Jahr später starb er, aber sein Sohn Judah wurde der neue Anführer einer Guerilla-Armee, die in den Bergen immer mehr wuchs. Sein Beiname „Makkabäus“ bedeutet ungefähr: der Hammer. Judah Makkabäus gehört in die lange Reihe von Volkshelden, die nationale Befreiungskriege angeführt haben. Giuseppe Garibaldi; der Grutte Pier; Kemal Atatürk; Skanderberg. Mit ihnen allen hat er gemeinsam, dass er mir unheimlich ist. Nur ungern würde ich ihn zum Tee einladen. Freiheitshelden neigen zur Brutalität, das bringt der Beruf so mit sich.
Bei den Satmarern in Williamsburg
Ich lese die Makkabäergeschichte in meiner kleinen ledergebundenen Lutherbibel, die ich vor vielen Jahren in einem Antiquariat entdeckt habe. In christlichen Bibeln gehören die Makkabäerbücher zum Umfeld des Alten Testaments. In der jüdischen Bibel, dem Tanach, kommen sie dagegen nicht vor: Die Rabbiner, die den biblischen Kanon zusammenstellten, befanden, dass sie den Juden nicht zugemutet werden sollten. Weil das hebräische Original des ersten Makkabäerbuchs verloren gegangen ist und es nur noch in griechischer Übersetzung vorliegt? Weil die Hasmonäer, die nach der Revolte von Judah Makkabäus in Israel an die Macht kamen, Vorläufer der Sadduzäer waren, also quasi ihrer natürlichen Fressfeinde im Tempel von Jerusalem? Weil sie die Römer nicht ärgern wollten, die Israel regierten, seit der General Pompeius dort einmarschiert war? Weil die Rabbiner die apokalyptische Gewalt fürchteten, die latent in diesen nationalistischen Büchern schlummert?
Jedenfalls ist es so, dass Christen die Makkabäerbücher lesen, obwohl die Geschichte, die dort erzählt wird, nur wenig mit ihrer Religion zu tun hat, während Juden sie nach dem Willen der Rabbiner gar nicht kennen dürften. Boshaft formuliert: Juden zünden zu Chanukkah ihre Leuchter an und wissen eigentlich nicht, warum.
An der Bedford Avenue steige ich aus der Subway. Die Bedford Avenue liegt mitten im Stadtviertel Williamsburg in Brooklyn und könnte sich ebenso gut im Prenzlauer Berg befinden. Viel junges Volk unterwegs, mondäne Läden, schicke Kneipen, Lebensmittelläden, in denen man sein halbes Monatsgehalt ausgeben könnte. Aber rundherum liegt die Heimat der Satmarer Chassidim. Die Satmarer stammen aus dem heutigen Rumänien, dem damaligen Ungarn; die Männer tragen schwarzen Kaftan, Schläfenlocken und Schtrejmel – einen hohen Pelzhut –, die Frauen tragen den Scheitl, eine Perücke, sind häufig schwanger und schieben Kinderwagen. Die Satmarer sprechen Jiddisch und schotten sich ab. Hitlers Genozid hat ihre Gemeinschaft besonders schwer verwüstet. Fragt man einen Satmarer, was er vom Staat Israel hält, kann es sein, dass er herzhaft ausspuckt. Die Satmarer glauben, dass der Zionismus eine Todsünde ist; dass die Juden mit der Staatsgründung auf den Messias hätten warten müssen; dass Hitler nur ein Werkzeug Gottes war, das die Strafe für den Zionismus vollstreckt hat.
Bei der Sufganjot-Verkostung, zu der ich mich angemeldet hatte, war kein einziger Satmarer Chassid zu sehen. Das Sufganjot-Testessen fand in einem freundlichen, modernen Hotel statt. Glühbirnen auf Tannenzweigen, eine gut ausgerüstete Bar. Sieben Bäckereien boten ihre jeweilige Version der in Öl frittierten Krapfen an, und wir, das Publikum, sollten bestimmen, welche uns am besten schmeckte. Waren das 100 Leute in dieser Halle? Wohl doch eher 200, und die meisten unter 30. Niemand hatte eine Kippa auf dem Hinterkopf, aber die Dame, die durchs Programm führte, trug einen Pullover mit großem lila Davidstern. Beim Einchecken wurden uns Plastikmünzen in die Hand gedrückt, denen siebenarmige Leuchter aufgeprägt waren. Mit ihnen sollten wir darüber abstimmen, welche der angebotenen Sufganjot-Varianten uns am besten gefiel. Beim Einchecken unterhielten sich zwei junge Männer hinter mir über Zohran Mamdani, den neugewählten New Yorker Bürgermeister. Sie lachten, beide fanden ihn great.
Ich finde Mamdani nicht so great. Noch 2017 hat er in einem Rap-Video seine Liebe zu den „Holy Land Five“ bekannt, einer Sympathisantengruppe, die zwölf Millionen Dollar an die Hamas überwies. Lange weigerte er sich, den Slogan „Globalize the Intifada“ zu verdammen. Aber was weiß ich schon? Ein Drittel der New Yorker Juden hat Mamdani gewählt, weil er ihnen Gratisbusse, einen Mietendeckel und billige Lebensmittelläden versprochen hat. Ich hob den Kopf und schaute mich um. Wie viele Leute bei dieser Chanukkahfeier hatten wohl Mamdani gewählt? Die Hälfte? Und ist es nicht seltsam, dass sich die Meinung linker Juden in puncto Israel gar nicht so sehr von jener der stramm konservativen Satmarer Chassidim unterscheidet?
Die Stimmung in dieser Hotelhalle war entspannt; draußen klirrte der Frost, drinnen Wärme und Licht. Ich probierte Sufganjot mit Labneh, einem dicken Joghurt aus Ziegenmilch, und Erdbeermarmelade: ausgezeichnet. Ich dachte an das zurück, was ich in der U-Bahn gelesen hatte. Wie jeder nationale Befreiungskrieg war auch jener im Israel des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts ein Bürgerkrieg. Viele Juden hatten sich mit der Besatzungsmacht arrangiert, manche von ihnen die griechische Kultur sogar mit Begeisterung angenommen. Die kulturelle Anpassung ging so weit, dass sie ins gymnásion gingen, um dort nackt Sport zu treiben. (Darum ist es ein bisschen seltsam, wenn ausgerechnet Fitnessstudios heute Chanukkahleuchter aufstellen.)
Warum redet hier niemand über Bondi Beach?
Juden sind bekanntlich beschnitten. Das entsprach nicht dem griechischen Schönheitsideal, darum nähten die Sportler sich künstliche Vorhäute aus Ziegenleder an ihre Penisse. Wie entsetzlich weh das getan haben muss! Und wie viele wohl danach an Blutvergiftungen starben! Aus Sicht der jüdischen Guerilleros waren solche Juden Kollaborateure. Ihr Schimpfwort für sie: mitjaw’nim, was getrost mit „Möchtegerngojim“ übersetzt werden kann. Waren die Leute, die hier in Brooklyn Chanukkahkrapfen mampften, samt und sonders mitjaw’nim?
Die Dame mit dem lila Davidstern auf dem Pullover begrüßte die Anwesenden, dann übergab sie das Mikrofon an einen Mann, den sie mit Eitan Levi vorstellte. Eitan Levi trug eine Baseballkappe und erklärte die Spielregeln: Auf einem Tisch vor ihm standen sieben Plastikbehälter, jede von ihnen mit dem Namen einer der Bäckereien, die sich hier dem Wettbewerb stellten. Wir sollten unsere Münze dort einwerfen, wo wir es für richtig hielten. Aber was war das? Vor den sieben Plastikbehältern brannte eine kleine weiße Kerze. Solche Kerzen zünden Juden an, wenn jemand gestorben ist, sie heißen Jahrzeitlichter. „Was ist los“, fragte Eitan Levi, „ist jemand tot?“, und er kicherte. Sofort ging es weiter im Programm.
Aber es war jemand tot. 15 Leichen an der Bondi Beach in Sydney, darunter ein totes Kind, ein Mädchen namens Matilda. Es war der erste Abend des Chanukkahfestes in Australien. Alex Kleytman, ein 87-Jähriger aus der Ukraine, der dort den Völkermord der Nazis überlebt hat, starb, weil er seine Frau mit seinem Körper deckte, um sie vor den Kugeln zu schützen; sie überlebte. Zwei Täter, ein Vater, ein Sohn, beide fanatische Muslime. So sieht es aus, wenn der Slogan „Globalisiert die Intifada“ in die Tat umgesetzt wird. Das Massaker wäre noch tödlicher geworden, wenn nicht Achmed al-Achmed, ein muslimischer Obstverkäufer, ein Flüchtling aus Syrien, sich von hinten auf einen der Mörder geworfen und ihm die Waffe entrissen hätte, dabei wurde er selbst angeschossen. Warum redet hier niemand darüber?
Chanukkah gehört zu den kleinen jüdischen Festen. Es steht nicht in der Bibel, sondern wurde von den Rabbinern eingesetzt. Das andere kleine jüdische Fest ist Purim, der jüdische Karneval. Die beiden kleinen Feste haben etwas mit Antisemitismus zu tun. An Purim geht es um die physische Auslöschung der Juden; an Chanukkah um den Versuch, den Juden ihren Glauben zu nehmen. Grob gesprochen: Purim dreht sich um den Antisemitismus nach Art der Nazis, Chanukkah um den Antisemitismus à la Sowjetunion. Bei dieser zweiten Version sollen die Juden gefälligst ihre Besonderheit aufgeben, ihr hartnäckiges Anders-Sein, und zwar im Namen eines universalen Ideals. Der Erlösung durch Christus bzw. Lenin etwa. Oder des Nacktturnens mit unbeschnittenen Gliedern. Oder einer Welt ohne Nationalstaaten. Der Antizionismus, denke ich, ist im Begriff, zu einer neuen Universalreligion zu werden. Der Krapfen, für den ich am Schluss votiert habe, schmeckte übrigens nach Salz und Kardamom, ein wunderbarer Schreck für den Gaumen.
Vor dem U-Bahn-Schacht drängelte sich in der Kälte eine Gruppe von Lubawitschern. Die Lubawitscher haben, im Unterschied zu den Satmarern, keine Schläfenlocken, und sie tragen schwarze Hüte anstelle von Pelzmützen. Die Lubawitscher lehnen den Staat Israel nicht ab. Und sie wollen sich nicht abkapseln, im Gegenteil, sie ziehen rund um die ganze Welt, um Juden zu überzeugen, dass sie sich an die göttlichen Gebote halten sollen, denn dann kommt endlich der Messias. „Bist du Jude?“, fragte mich ein junger Lubawitscher im breitesten Brooklyn Akzent. „Haste schon ‘ne Menorah? Ja? Na, dann frohes Fest!“
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