Nachdem die amerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit von Großbritannien erklärt hatten, dachte Benjamin Franklin sich ein großartiges Staatssiegel der neu gegründeten Republik aus. Seine Vision: ein Meer, in dem die Streitmacht des bösen Pharao versinkt, am Ufer steht Moses, um ihn herum die geretteten Israeliten. Thomas Jefferson hatte eine etwas andere Idee: Er wollte das Volk Israel in der Wüste abbilden, das von einer Säule aus Feuer geführt wird. Am Ende wurden es dann doch der Adler mit den Nationalfarben, der in der einen Kralle die Pfeile für den Krieg und in der anderen den Olivenzweig des Friedens hält. Die ursprünglichen Vorschläge zeigen aber: Die Identifikation mit dem Gottesvolk der Bibel war in Amerika von Anfang an stark.

Das ist erstaunlich, denn die Gründerväter der Vereinigten Staaten waren alles andere als gläubige oder gar fundamentalistische Christen. Sie hatten nicht in Weihwasser gebadet; stattdessen waren sie mit allen Wassern der Aufklärung gewaschen. Viele der Gründerväter waren Freimaurer. Die meisten neigten einer Weltanschauung zu, die als Deismus bezeichnet wird – Gott hatte ihrer Meinung nach zwar die Welt erschaffen, griff seither aber nicht mehr durch Wunder in seine Schöpfung ein. Der erste Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung bestimmte, dass der Gesetzgeber keine Staatsreligion stiften durfte; es durften auch keine Angehörigen religiöser Minderheiten benachteiligt werden. Thomas Jefferson sprach in einem Brief von einer Mauer, die zwischen Staat und Religion errichtet werden müsse.

Und doch identifizierten sich die Amerikaner mit der hebräischen Bibel. Genauer: Sie begriffen die amerikanische Revolution als Auszug aus Ägypten. König George III., der englische König, galt ihnen als Pharao, George Washington war der neue Moses, die Neue Welt ihr Kanaan, das von Gott verheißene Land (dieser Teil der hebräischen Bibel erwies sich für die amerikanischen Ureinwohner oft als tödlich.) Die amerikanische Nation sollte eine Nation sein, die, wie damals das Volk Israel am Sinai, durch das Gesetz zusammengehalten wird. In den Vereinigten Staaten sollten nicht Könige herrschen, sondern die Buchstaben der Verfassung. Thomas Jefferson wollte, dass auf dem amerikanischen Staatssiegel der Satz stehen sollte: „Rebellion gegen Tyrannen ist Gehorsam gegen Gott.“

Selbstverständlich war das Heuchelei. Bei ihrer Gründung waren die Vereinigten Staaten halb eine aristokratische Republik und zur anderen Hälfte ein Gulag, in dem schwarze Sklaven auf Plantagen schufteten. Zehn der ersten zwölf amerikanischen Präsidenten waren Sklavenhalter. Immerhin hatten manche der Gründungsväter, unter ihnen Washington und Jefferson, wegen der Sklaverei ein schlechtes Gewissen; sie hofften inständig, dass dieses Übel irgendwann von selbst verschwinden würde.

Vor 1980 waren Christen hier eher links

Auch die Befürworter der Sklaverei pochten auf die hebräische Bibel. Sie zitierten eine Episode, die nach der Sintflut spielt: Noah wird Weinbauer, betrinkt sich, liegt nackt in seinem Zelt und schläft seinen Rausch aus. Noahs Sohn Ham findet ihn so; er ruft seine Brüder Schem und Jafet herbei, um ihnen den nackten Vater zu zeigen. Schem und Japhet decken ihn mit abgewandtem Gesicht zu. Als Noah erwacht und herausfindet, was ihm geschehen ist, verhängt er einen Fluch über seinen Enkel, den Sohn von Ham. Er sagt: „Verflucht sei Kanaan und sei seinen Brüdern ein Knecht aller Knechte!“ (1. Mose 9,25) Die Idee, es gebe unterschiedliche „Rassen“ wäre in der biblischen Zeit unverständlich gewesen. Trotzdem nahmen die Sklavenhalter diese Bibelstelle als Beweis, dass Gott die Afrikaner (also die Nachkommen von Ham) den Weißen (also Japhet) und Semiten (das heißt Schem) als Sklaven zugesprochen habe.

Die Identifikation mit dem Volk Israel einte zumindest die protestantischen Amerikaner über ihre politischen Differenzen hinweg. Hier ist Harriet Beecher Stowe, Autorin des Romans „Onkel Toms Hütte“, mit dem sie um Mitleid für die gepeinigten Schwarzen warb. „Mein Großvater“, erinnert sie sich, „betete immer im Stehen, und das Bild seines milden Silberhauptes, wie es über die hohe Lehne seines Stuhles ragt, steigt in mir auf, wann immer ich an meine Kindheit zurückdenke. Es lag keine große Wärme in diesen täglichen Exerzitien, kein Eifer, eher eine ernste und hochgestimmte Würde. Der Form nach waren die Gebete heuristisch; von Zion und Jerusalem war die Rede, vom Gotte Israels, dem Gott Jakobs … und außer der Schlussformel ‚um deines Sohnes, des Heilands willen‘ hätte all dies in Palästina von einem gebildeten Juden zur Zeit König Davids ausgesprochen werden können.“

Vor den Achtzigerjahren war Religion in Amerika eher eine Sache der Linken als der Rechten. Das gilt etwa für die weißen Evangelikalen des 19. Jahrhunderts, die Abolitionisten waren, also radikale Gegner der Sklaverei. Auch die Bürgerrechtsbewegung war zutiefst religiös: „Let my people go!“ Die Rolle der Israeliten spielten nun unterdrückte Schwarze, und Moses hörte auf den Namen Martin Luther King. In der berühmten Rede, die er am 28. August 1963 vor dem Lincoln-Monument in Washington hielt, klang Martin Luther King wie ein biblischer Prophet. Er entwarf eine universale Vision, die an Jesaja erinnerte, und lieh sich die Stimme von Amos: „Nein, nein, wir sind nicht zufrieden, und wir werden nie zufrieden sein, solange das Recht nicht strömt wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“

Und heute? In den vergangenen 20 Jahren sind die christlichen Kirchen in den Vereinigten Staaten zusammengebrochen. Amerika ist zwar noch lange nicht so säkular wie Europa, aber die Zahl der Amerikaner, die sich selbst Christen nennen, ist auf 63 Prozent der Bevölkerung geschrumpft. Wie eine Soße, die sich bei kochender Hitze blubbernd reduziert, sind die verbliebenen Christen tendenziell immer radikaler geworden. Am extremsten ist jene Bewegung, die sich „neuapostolische Reformation“ nennt. Ihre Anhänger glauben wie die Pfingstler, sie seien vom Heiligen Geist getauft worden; die Demokratische Partei halten sie buchstäblich für dämonisch. Die Trennung von Kirche und Staat sei verwerflich, Amerika müsse von bibeltreuen Christen beherrscht werden. Wir haben es hier keineswegs mit einer Randerscheinung zu tun. Zu den Anhängern der „neuapostolischen Reformation“ gehören Kongressabgeordnete wie Lauren Boebert und Marjorie Taylor Greene, der Ex-General Michael Flynn, Michael Johnson, der Sprecher des Repräsentantenhauses, und Paula White, die dem Präsidenten als spirituelle Beraterin zur Seite steht.

Die krude Augustinus-Deutung von J.D. Vance

Vor hundert Jahren musste man in Amerika noch Protestant sein, wenn man zu den Weißen gezählt werden wollte; Iren, Italiener, orthodoxe Slawen gehörten nicht dazu. Das hat sich geändert. Niemand findet heute erwähnenswert, dass am Obersten Gerichtshof in Washington sechs Katholiken, ein Anglikaner und eine Jüdin sitzen. (Die eine verbleibende Protestantin ist Ketanji Brown Jackson, eine schwarze Frau.) Auch der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, J. D. Vance, ist kein Protestant, sondern bekennender Katholik. Er beruft sich zur Rechtfertigung seiner ultrarechten Politik nicht auf die Bibel, sondern den Kirchenvater Augustinus. In seinem Buch „De civitate Dei“ hatte Augustinus seine Vorstellung von einem „ordo amoris“ entworfen, einer Ordnung der Nächstenliebe. Vance interpretiert den „ordo amoris“ so: Zunächst einmal gehe es darum, die Angehörigen der eigenen Nation zu lieben; Fremde kämen, wenn überhaupt, erst später dran.

All dies ist theologisch sehr merkwürdig. Darauf haben vor allem andere Christen hingewiesen. Den Anhängern der „neuapostolischen Reformation“ geht es vor allem um eines: die Macht im Staat. Ihr Idol Donald Trump findet nichts so anbetungswürdig wie Erfolg und verachtet „loser“, Verlierer, aus ganzem Herzen. Den konservativen Christen Peter Wehner erinnert das nicht so sehr an die Bibel als vielmehr einen deutschen Philosophen mit Riesenschnauzbart: „Was ist gut? Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? Alles, was aus der Schwäche stammt … Die Schwachen und Missratenen sollen zugrunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe.“ So steht es in „Der Antichrist“ von Friedrich Nietzsche.

Auch die krude und nationalistische Auslegung des „ordo amoris“ durch den Vizepräsidenten hat in katholischen Fachkreisen zu skeptisch hochgezogenen Augenbrauen geführt. Der Jesuitenpater James Martin etwa erinnerte an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, dessen Pointe ja sei, dass ausgerechnet der Stammesfremde sich so verhält, wie es die Thora will.

Donald Trumps zweite Amtszeit begann mit einem biblisch inspirierten Skandal, der schon wieder vergessen ist. Mariann Budde, Bischöfin der Episkopalkirche, bat den Präsidenten bei einem Gottesdienst in der „National Cathedral“ um Erbarmen. Erbarmen mit den Immigranten und ihren Kindern, die fürchten; Erbarmen mit Schwulen, Lesben, Transsexuellen; Erbarmen mit Flüchtlingen. „Unser Gott lehrt uns, Erbarmen mit dem Fremden zu haben, weil wir alle einst Fremde in diesem Land waren“, sagte die Bischöfin. Da war sie wieder, die Identifikation mit dem biblischen Gottesvolk.

Alles ziemlich ungemütlich

Trump reagierte auf diese Predigt, indem er von der Bischöfin eine Entschuldigung verlangte. Ebenso gut hätte er eine Entschuldigung allerdings von den Autoren der Bibel verlangen können. Schlagen wir das Buch der Bücher auf: „Wie einen Einheimischen sollt ihr den Fremden ansehen, der bei euch lebt. Du sollst ihn lieben wie dich selbst. Denn im Lande Ägypten seid auch ihr Fremde gewesen: Ich bin der Ewige, euer Gott.“ (3. Mose 19,34) „Eine Thora sei für den Einheimischen wie für den Fremden, der bei euch wohnt“ (2. Mose 12,24) „Lernt, Gutes zu tun, trachtet nach Recht, helft dem Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwe Sache!“ (Jesaja 1, 17) „Hört dieses Wort, ihr Kühe von Baschan, die ihr auf dem Berg Samaria seid, die ihr die Armen unterdrückt, die ihr die Bedürftigen zermalmt und zu euren Herren sprecht: Komm her, lasst uns saufen! Der Ewige hat geschworen bei seiner Heiligkeit: Es wird die Zeit kommen, da man euch herauszieht mit Angeln und eure Nachkommen mit Fischhaken!“ (Amos 4, 1-2)

Alles ziemlich ungemütlich. Zum Abschluss ein Zitat von einem berühmten Wunder- und Wanderrabbi aus Galiläa. Er lässt einen König in einem Gleichnis sagen: „Was ihr dem Geringsten unter diesen meinen Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25, 40) Welcher maskierte Agent der amerikanischen Einwanderungsbehörde ICE könnte das lesen, ohne zu erschauern?

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