Seine Sonnenbrille trägt er wie ein Türsteher und die Goldkette wie ein Rapper. „Der Bücherschrank“ gehört zu den schillerndsten und umstrittensten Figuren der deutschen Bookfluencer-Szene: ein literarischer Lautsprecher, der zwischen Schnitzlers „Traumnovelle“, Jüngers „In Stahlgewittern“ und zeitgeistkritischer Anti-Woke-Lektüre dribbelt. Treffen zum Mittagessen in München mit dem Mann, dessen Devise „Bücherempfehlungen, die ballern!“ lautet.
Was ist er denn überhaupt, mehr Kritiker oder Entertainer? „Ich glaube, ich erfülle da genau eine Lücke, die es vorher nicht gab“, meint der breitgebaute Influencer und nimmt in dem Schwabinger Grillrestaurant Platz. „Buchkritiker gibt es auf Instagram ja viele, die bringen ihre Inhalte halt meistens langweilig rüber.“
Die Videos auf seinem Instagram-Kanal „@der.buecherschrank“ – seinen richtigen Namen hält er geheim – lassen sich am ehesten als Collage aus Meme, Musik, Comedy und Buchrezension beschreiben. Zu seiner Besprechung von Dostojewskis Klassiker „Weiße Nächte“ etwa läuft leise ein Instrumental von Eminem, während er „Mega poetisch geschrieben! Gönnt Euch! Peace!“ in die Kamera ruft, in einem anderen Video lobt er Ulf Poschardts „Shitbürgertum“ zum Beat eines Bushido-Tracks als „massiven Pre-Workout Booster für den Geist.“
Hesse, Hantelbank und Hate-Kommentare
Bizeps, Trizeps, die Brust definiert. Durch sein Krafttraining konterkariert der „Bücherschrank“ das Klischee des dünnen, blassen Bücherwurms. Hesse und Hantelbank sozusagen. „Das ist glaube ich gerade der Punkt, der mich als Person ausmacht. Wenn die Leute meinen Account angucken und erstmal ein Fragezeichen im Kopf haben, dann habe ich mein Ziel erreicht, das finde ich geil.“ Die Kellnerin, die ihren Stammgast kennt, kommt an den Tisch. „Wieder das Rinderfilet?“ Der Bücherschrank nickt, „Medium-Well bitte. Und eine Cola Zero dazu.“
Anfang dieses Jahres geht sein Account durch die Decke, plötzlich hat er eine fünfstellige Anzahl an Followern, nahezu alle großen Verlage folgen ihm. Dann kommt der Sommer und mit ihm ein kurzer, aber heftiger „Shitstorm“. Für einige große Vertreterinnen der links geprägten „Bookfluencer-“Szene sind seine Videos zu viel des Guten. Sie rufen zum Boykott auf und schreiben gezielt seine Follower an, sie mögen dem „problematischen“ Influencer, der immer wieder die „Woke Culture“ aufs Korn nimmt, doch bitte entfolgen. „You can‘t sit with us“, hätten sie in seine Richtung adressiert proklamiert, was im modernen Empowerment-Sprech so viel heißt wie: Du gehörst nicht zu uns. Der Bücherschrank nimmt's mit Humor. „Als ob ich mit denen sitten wollte, haha“, ruft er und schneidet sich ein zartrosafarbenes Stück vom Rinderfilet ab.
Nachdem er für seine angeblich „queerfeindlichen Inhalte“ bei Kooperationspartnern denunziert wird, stellt die Lese-App „Reado“ tatsächlich die Zusammenarbeit mit ihm ein, Verlage wie Rowohlt oder Diogenes entfolgen ihm. Auch in seinem privaten Umfeld bekommt er Probleme, weshalb er seinen richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. „Ich bin noch vorsichtiger geworden, weil ich weiß, dass Leute teils auch wegen Nichtigkeiten ihre Jobs verlieren“, meint der 40-Jährige und erwähnt, dass er den Account bislang nur als Hobby betreibe und im echten Leben neben seiner Rolle als Ehemann und Vater einem normalen Beruf nachgehe.
„Ich weiß genau, wen Merz gemeint hat“
Dabei ist seine Internet-Karriere eher ein Zufallsprodukt. In der Schule sei er nie ein Fan von Büchern gewesen, erzählt er, und noch heute bestehe sein Freundeskreis im „real life“ vornehmlich aus Leuten, die nicht lesen würden und wenig mit seinem Account anfangen könnten. Nach dem Abitur arbeitet er zunächst einige Jahre parallel zum Studium der Medienwissenschaften als Eventmanager in München. Dann kommt Corona, die Politik dreht dem ganzen Land den Saft ab und der „Bücherschrank“ hat wie Millionen junger Männer plötzlich viel Zeit. „Da dachte ich mir so, okay, ich will jetzt einfach mal mehr lesen“. Auf seinem privaten Instagram-Account fragt er zunächst Bekannte nach Lesetipps. Als diese sich später nach seiner Meinung erkundigen, entschließt er sich, einen Bücher-Kanal anzulegen, den er zunächst „Certified Book Boy“ nennt, in Anlehnung an ein Album des Rappers Drake. Später schlägt ihm seine Schwägerin den Namen „Bücherschrank“ vor. „Das fand ich ein cooles Wortspiel“, meint er grinsend „und es passt ja auch ganz gut.“ Sein Ziel sei es, gerade auch Gruppen wie jungen Männern oder Migranten Bücher näherzubringen.
Als Sohn iranischer Eltern, die Mitte der 80er-Jahre nach Deutschland fliehen, weiß er, wovon er spricht. Aufgewachsen im Münchner Harthof, einer Sozialbau-Siedlung mit hohem Migrationsanteil, ist er hautnah dran. Viele Jugendliche hätten den ganzen Tag auf der Straße herumgelungert und dabei eben irgendwann kriminelle Energie entwickelt. „Die meisten Eltern dort hatten andere Probleme, als sich darum zu kümmern, was ihre Kinder eigentlich den ganzen Tag so machen. Das war bei mir zum Glück nicht so, meine Eltern haben immer auf uns achtgegeben.“ Die Mutter arbeitet nach der Ankunft in Deutschland als Krankenschwester, weil man ihr iranisches Medizinstudium nicht anerkennt, der Vater verdingt sich zu Beginn als Arbeiter auf dem Bau, später macht er sich in der Gastronomie selbstständig. Vom Lohn bezahlen die Eltern seinen Nachhilfeunterricht, er macht sein Abitur und geht danach auf die Uni.
Vor diesem Hintergrund versteht er auch viele aktuelle Debatten wie jene um die „Stadtbild“-Aussage von Bundeskanzler Friedrich Merz nicht: „Wenn ich durch den Münchner Hauptbahnhof laufe, dann weiß ich genau, wen Merz gemeint hat, auch wenn er das für einen Politiker von seinem Format blöd ausgedrückt hat“, meint er und trinkt das Colaglas aus. Er selbst habe sich davon keineswegs angesprochen gefühlt. „Viele wollen es ja auch einfach bewusst falsch verstehen. Das ist heutzutage ja auch so ein Phänomen: Dinge bewusst falsch zu verstehen, um sie dann anprangern und sich künstlich darüber empören zu können oder sich in der eigenen Opferrolle zu suhlen.“
„Young Adult“ und junge Männer
Wie blickt er auf die immer größer werdende „Bookfluencer“-Szene, die für viele Verlage zu einem immer wichtigeren Faktor im Kampf um Sichtbarkeit und Absätze wird? „Ich glaube, viele Verlage arbeiten nur noch mit Influencern zusammen, bei denen man berechenbar sagen kann, wie diese Person rezensieren wird und weiß, dass diese Person sich immer konform verhält.“ Gerade im „Young Adult“-Genre beobachte er einen Hang zu Gefälligkeitsrezensionen, um auch weiterhin Gratisbücher zu erhalten und gemocht zu werden. Auch seien Follower-Käufe mittlerweile weitverbreitet, um Verlagen so eine höhere Reichweite vorzugaukeln.
Die in der Verlagsbranche immer lauter werdenden Klagen, dass junge Männer kaum noch Bücher lesen würden, kann er nicht nachvollziehen. „Also viele Männer wollen schon lesen, nur wird es ihnen auf Social Media oft nicht so schmackhaft gemacht wie jungen Frauen.“ Für klassisch weibliche Genres wie „Romantasy“ etwa existierten gewaltige Marketingbudgets. Zudem sei die Mehrheit der Buch-Influencer-Szene eher „abgespact und paradiesvogelmäßig unterwegs“, mit einer oft ähnlichen Art von Literatur, die vor immer gleich aussehenden pastellfarbenen Bücherregalen in die Kamera gehalten werde – „und dabei wird dann oftmals noch recht schlecht geschauspielert.“
Bei der Verabschiedung dann noch eine ganz besonders raffinierte Reporter-Frage: Wenn er ein Buch über sich selbst schreiben würde, wie würde der Titel lauten? Der Bücherschrank grinst hinter seiner Sonnenbrille hervor. „Vom Bordstein bis zur Skyline“, entgegnet er prompt, steigt in seinen Wagen und rollt gediegen in den diesigen Schwabinger Nachmittag hinfort.
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