Das Gymnasium in Wunsiedel ist wohl die einzige Schule, die eine Mumie besitzt. Die einbalsamierte Leiche liegt im Keller und wird gelegentlich Besuchern gezeigt oder im Biologieunterricht bestaunt.

Wunsiedel? War da nicht etwas? Richtig, das beschauliche Städtchen in Oberfranken hatte schon einmal eine Art Mumien-Problem. Vor drei Jahrzehnten erlangte es überregionale Aufmerksamkeit, weil dort Neonazis am Grab von Rudolf Heß aufmarschierten. Hitlers Stellvertreter, dem homosexuelle Neigungen nachgesagt wurden, Spitzname Schwarze Berta, war von all den seltsamen Figuren im Machtzentrum des Dritten Reichs eine der kurioseren: ein Faible für Astrologie und Reformernährung, wenig Karrierebewusstsein, leidenschaftlicher Antisemit, bedingungslose Ergebenheit gegenüber dem Führer, dem er 1924 bei der Niederschrift von „Mein Kampf“ als Tippse half.

Schließlich sein von Naivität (oder waren es Geheimdienste?) getragener Flug nach Schottland 1941, um mit den Briten Frieden zu schließen. Es folgten Jahrzehnte im Gefängnis, ehe er sich 1987 (angeblich geläutert) das Leben nahm. Bestattet wurde er im elterlichen Grab in Wunsiedel, das sich daraufhin zum Kulminationspunkt der größten Neonazi-Aufmärsche Deutschlands entwickelte.

2011 kam es zur Auflösung des Grabes. Seither hat der Braunspuk ein Ende, ist es wieder ruhiger geworden in Wunsiedel. Heß’ Großvater, ein um 1880 in Ägypten tätiger Kaufmann – die Familie stammte aus Wunsiedel, trieb aber über mehrere Generationen Handel in Ägypten – schenkte der damaligen Lateinschule die Mumie, die er auf dem Schwarzmarkt in Alexandria erstanden hatte.

Wunsiedel selbst, zwischen Bayreuth, Hof und Eger gelegen, besitzt eine liebenswerte Verschlafenheit und die Vielfalt von Bierarten aus Privatbrauereien. Heimat der Sechs-Ämter-Tropfen und des weißen Wunsiedler Marmors. Der erste politische Attentäter Deutschlands stammt von hier – Carl Ludwig Sand, Mörder des Dramatikers August Kotzebue – ebenso der skurrilste, einzigartigste, erstaunlichste Schriftsteller deutscher Zunge, der hier 1763 als Johann Paul Friedrich Richter das Licht der Welt erblickte und als Jean Paul Literaturgeschichte werden sollte.

Vor kurzem wurde sein 200. Todestag begangen und es ist verdächtig ruhig um den mutigsten, modernsten, aber auch kauzigsten Schriftsteller Deutschlands. Auch sein erster Roman „Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung“ führte die Mumien als erratischen Untertitel. Bereits die Titel seiner Werke zeigen eine lustvolle Verstiegenheit: „Leben des Quintus Fixlein, aus fünfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußtheil und einigen Jus de tablette.“ „Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz mit fortgehenden Noten; nebst der Beichte des Teufels bey einem Staatsmanne.“ Oder: „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal.“

Aber es hilft alles nichts, niemand liest ihn mehr, zumindest nicht freiwillig. Jean Paul passt nicht mehr in unsere Zeit. Er ist zu komplex, zu vielschichtig, zu philosophisch … zu viel von allem. Was sagt das über uns? Können wir nicht mehr lesen?

In den 1970-ern und 80ern haben sich noch ganze Heerscharen an Germanisten an ihm abgearbeitet. Jean Paul als Revolutionär, als Vorläufer der Surrealisten, als Begründer der Postmoderne, als Deutschnationaler, Tierfreund, Biertrinker und so weiter. Es gibt ein Jean-Paul-Gymnasium in Hof, Jean-Paul-Gassen, ein Jean-Paul-Hotel, nach ihm benannte Wanderwege, aber der Besucherandrang in seinem Wunsiedeler Geburtshaus ist überschaubar. Von der letzten Gedenktagfeier (250. Geburtstag) sind noch ein paar ihm gewidmete Litfaßsäulen übrig, aber bereits die Veranstaltungen der Jean-Paul-Freunde tendieren zur sektiererischen Liebhaberei.

Jean Paul ist genial und Kult, aber für die Leser verloren. Er gilt als Worterfinder, was so nicht stimmt. Meist hat er lediglich Komposita gebildet. Die ihm zugeschriebenen „Gänsefüßchen“ waren bei Druckern bereits gang und gäbe. Den „Weltschmerz“ hat er nur zusammengefügt.

Jean Paul hat wie kein anderer zuvor und nur wenige danach sein Leben radikal dem Schreiben gewidmet. Bereits als Jugendlicher begann er, alle gelesenen Bücher zu exzerpieren, um eine Art privates Nachschlagewerk zu haben, wobei man in diesen Extrakten nichts über den Inhalt erfährt, weil ihn nur das Absonderliche interessierte, das, was er irgendwann einbauen konnte.

Zum Beispiel den achtbeinigen Hasen, der in der Katzenbergerschen Badereise vorkommt: Wird das Tier müde, wirft es sich einfach auf den Rücken und läuft mit den oberen vier Beinen weiter. Jean Paul, der in seinem Leben nie das Meer gesehen und keine größeren Reisen als bis nach Berlin oder Heidelberg unternommen hat, destillierte alles Wissen seiner Zeit aus Büchern, was ihn zu einem Vorläufer von Google macht.

Seine Werke sind voller Einschübe, Zwischenkapitel, Vor- und Nachworten, Ergänzungen, Perspektivenwechsel, Identitätsvertauschungen, dass jede Inhaltsangabe zwangsläufig scheitert. Oft weiß man selbst nach 300 Seiten nicht, was man da gelesen hat. Und Jean Pauls Romane sind lang. Manchmal tritt er selbst auf, dann sein Alter Ego in einem anderen Körper, dann ist man wieder in einer Todesvision, einem Traum, oder Christus selbst spricht vom Kreuz herab, das alles ist so kompliziert, dass netflixträge Hirne nicht mitkommen.

Sich darauf einzulassen, erfordert Muße und Geduld, die in unserer Zeit niemand mehr hat. Wagt man es dennoch, wird man aber reich belohnt, wobei sich das berauschende Glücksgefühl, das Jean Pauls Texte gelegentlich erzeugen, schwer festmachen lässt. Sein Wortschatz soll jenen Goethes um die Hälfte übertreffen. Nicht selten werden alltägliche Szenen dermaßen zugespitzt, dass sie sich selbst ad absurdum führen und dem Leser der Kopf rauscht.

Jean Paul war ein Moralist, der sich selbst nicht immer ganz ernst genommen hat. Einer, dem kaum etwas heilig war, dem es vor allem darum ging, die Welt in ihren vielfältigen Ausprägungen mit Sprache zu erfassen. Erster deutscher Humorist, dessen komische Effekte nie bösartig oder zynisch sind, eher mit der sanften Ironie eines Spitzwegs daherkommen. Da ist etwa der titelgebende Schulmeister Wutz, der sich anhand eines Katalogs, dem er Titel entnimmt, sämtliche Weltliteratur selbst schreibt und dann nicht versteht, wie ein anderer Autor (nämlich der eigentliche) sie ganz anders schreiben konnte.

Oder der Naturwissenschaftler Katzenberger, der sich vor nichts ekelt und in Parodie auf Jean Pauls jugendliche Gefühlsduselei die Grenzen zwischen schön und hässlich verwischt, aber auch der Feldprediger Schmelzle, ein ausgemachter Feigling und Meister der komischen Ausreden, der auf seiner Reise nach Flätz dem blinden Passagier Jean Paul begegnet. Manche Passagen zählen zum Komischsten, was je geschrieben worden ist.

Jean Paul war ein Abschweifer, der den Leser mit einer Bilder-, Stoff- und Motivflut überforderte, mit Identitäten seiner Charaktere spielte, gerne auf das Motiv des Doppelgängers zurückgriff, alle gesicherte Realität infrage stellte. Er war vielleicht der erste postmoderne und auch postquantentheoretische Autor, bestimmt aber der erste professionelle Schriftsteller Deutschlands.

Aus geregelten Verhältnissen kommend – der Vater war Pfarrer und die Mutter stammte aus einer Hofer Kaufmannsfamilie – stürzte der frühe Tod des Vaters samt Erbschaftsstreitigkeiten die Familie in Armut. Dann starben zwei enge Freunde, beging ein Bruder Selbstmord. Noch als Friedrich Richter brach er sein Theologiestudium ab, kam als Hauslehrer gerade so über die Runden und wurde von der geringen Resonanz seiner ersten beiden Bücher (voller Satiren) enttäuscht.

Dann gelang ihm mit „Hesperus oder 45 Hundsposttage“ ein sensationeller, auch kommerzieller Erfolg. Er wurde nach Weimar eingeladen, lernte Goethe, Schiller, Herder und die ganze Klassik-Schickeria kennen, blieb aber Außenseiter. Wiewohl er einen Hang zum Sentimentalen hatte, war ihm das Hehre der Klassik nur gebrochen erträglich. Seine späteren, von der Nachwelt viel höher eingestuften Romane „Siebenkäs“, „Flegeljahre“ oder „Titan“ konnten an den Publikumserfolg des „Hesperus“ nicht mehr anschließen, reichten aber, ihm ein Auskommen zu sichern.

Sieht man Porträts von ihm, kann man schwerlich glauben, dass dieser wohlbeleibte Mann mit der hohen Stirn – ein aus dem Leim gegangener Baudelaire – ein Frauenliebling war. Eine Weile lang betrieb er in Hof eine sogenannte erotische Akademie, was an eine orgiastische Liebesschule und haremartiges Treiben denken lässt, tatsächlich aber ein Salon für Gespräche über das Seelenleben gewesen sein muss, ein verklemmtes Schwelgen in Empfindungen.

Sowohl als Mensch als auch als Schriftsteller hatte er Probleme, sich festzulegen. Seine Texte sind prall gefüllt mit Ergänzungen, Kommentaren, Einschüben und Anweisungen an Drucker oder Verleger, aber darin wird nie etwas erklärt, sondern das Verwirrspiel auf die Spitze trieben.

Privat gab er öfter Eheversprechen als mancher Heiratsschwindler, mehrfach ließ er sich ver- und entloben, bis er doch im ehelichen Trott einer bürgerlichen Existenz landete, von der er sich die Sicherheit ungestörten Arbeitens und die Reinschrift seiner Manuskripte versprach. Kinder, Haustiere und Dienstboten mögen da als Störung empfunden worden sein, aber auch sie wurden gnadenlos literarisiert. Er wies seine Frau an, im Falle eines Brandes zuerst seine Exzerpte zu retten, erst danach die Kinder. Die Destillate und Manuskripte, auf Vorrat geschriebene Todesvisionen oder Träume, Lebensbeschreibungen und Skizzen, waren seine papierene Festplatte.

Luxus interessiere ihn nur, um in seine Texten Eingang zu finden. Er selbst begnügte sich mit Kartoffeln und trank, vor allem in späteren Jahren, Unmengen Bier, um den Schreibmotor anzuwerfen. Nach Wunsiedel sollte er nur einmal zurückkehren, anlässlich eines nicht gereimten Zwischenspiels, das er für den Felsengarten schrieb. Die Versform als Selbstzweck lehnte er eigentlich ab, und ließ er sich doch dazu hinreißen, erwies er sich als auffallend untalentierter Dichter, der holprige Verse fabrizierte.

Ob es Zufall ist, dass Jean Paul seine letzten Lebensjahre ausgerechnet in Bayreuth verbrachte, wo wenige Jahrzehnte später ein anderer Monolith des deutschen Kulturlebens wirken sollte? Mittlerweile haben sich die Wagner-Aufführungen zu geriatrischen Ärztekongressen ausgewachsen, Wagner ist weltberühmt, Jean Paul ein bald zu Unrecht Vergessener. Der Schriftsteller selbst liebte Bayreuth am meisten, als er noch nicht dort wohnte. Wie er überhaupt immer von dem schwärmte, was er nicht hatte.

Seine Prosa ist voller Gedankenspiele und Wissensüberschuss, als wollte er in seiner Literatur eine zweite Welt bauen. Oder eine KI füttern? Mit einer so noch nie dagewesenen Schreibwut hat sich dieser Autor der metaphysischen Verunsicherung seiner Zeit entgegengestellt und ein einzigartiges Werk erschaffen, das schon damals aus der Zeit gefallen war.

Dieses Jahr hätte es mit dem 200. Todestag Gelegenheit gegeben, das zu ändern. Aber so viele Jean-Paul-Aficionados auch wie wild daran arbeiten mögen, ihn wieder populärer zu machen, es wird nicht funktionieren. Die denkfaule Gegenwart tendiert zum Seichten. Literatur, die zu Wirbeln, Strudeln und Flutwellen neigt, ist ihr zu gefährlich.

Die Wunsiedler erzählen, dass sich hier Kontinentalplatten übereinander schieben und der uranhaltige Granit Radioaktivität abstrahlt. Liegt es daran, dass die Randlpflanzerl, als die sie sich selbst sehen, so einen außergewöhnlichen Schriftsteller hervorgebracht haben? Auch Erika Fuchs, die geniale Übersetzerin Donald Ducks hat nicht weit von hier gelebt, weshalb viele Ortsnamen der Entenhausener Community verdächtig nach Oberfranken klingen: Schnarchenreuth, Oberkotzau, Untreusee. Nur Wunsiedel ist mir bei Donald Duck nie untergekommen. Jean Paul natürlich auch nicht, obwohl er Erika Fuchs näher ist, als man denkt, aber das ist eine andere Geschichte.

In Wunsiedel gibt es die größte Freilichtbühne Deutschlands, die Luisenburg, wo im Sommer ein Stück über Jean Paul gegeben wurde. Ich habe es geschrieben. Es ist der Versuch, die Mumie wieder auferstehen zu lassen, den größten unverstandenen deutschen Literaten zum Leben zu erwecken. Das Unternehmen ist aussichtslos, aber einen Versuch war es zumindest wert.

Der Schriftsteller Franzobel, Jahrgang 1967, erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis und den Bayerischen Buchpreis. Bei Zsolnay erschienen zuzletzt „Das Floß der Medusa“ (2017), „Die Eroberung Amerikas“ (2021) und, in diesem Jahr, „Hundert Wörter für Schnee“.

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