Die Geschichte von Billy Idol lässt sich auch als die Geschichte eines ziemlich großen Missverständnisses schreiben. Ein Missverständnis, das den gebürtigen Briten nicht nur zum Weltruhm, sondern auch in schwere Lebens- und Identitätskrisen stürzte, am Ende sogar bis zu den Abgründen der eigenen Existenz trug. Aber es kann sein, dass mit diesem Missverständnis nach all den Jahren endlich aufgeräumt wird. Denn jetzt ist Idols achtes Soloalbums mit dem Titel „Dream Into It“ herausgekommen, ein Album, auf dem Idol den Versuch unternimmt, die eigene Karriere zu reflektieren, mehr noch, ihre merkwürdigen Brüche vielleicht sogar endlich zu akzeptieren. Aber der Reihe nach.

Das große Missverständnis begann bereits vor ziemlich genau 43 Jahren, als Idol sich von seiner Band Generation X trennte und 1982 mit einem nach ihm selbst benannten Album die Charts eroberte. Seine Plattenfirma entschied sich, seine Musik als das zu vermarkten, was sie bei wohlwollender Betrachtung schon lange nicht mehr war, in konservativer Perspektive aber auch nie gewesen ist: Punk. Billy Idol war zwar in den 1970er-Jahren Teil der Subkultur, bewegte sich in der Szene, hatte aber schon immer versucht, einen massentauglicheren, melodiöseren Ansatz für Punk zu finden, der bei den Gatekeepern schwer verpönt war. Hochglanz ging da gar nicht. Idol wollte aber genau das.

Spätestens mit dem Ende von Generation X machte er einen radikalen Cut und entschied sich für satte Produktionen, zunehmenden Synthesizer-Sound, Majorlabel-Money, Radio-Airplay und die ganz große Pose. Und dennoch verfing die Erzählung. Billy Idol blieb in der Rolle des Punks gefangen. Sie passte zu seinen Lederjacken und dem Irokesen-Look, sie passte zu seiner Attitüde eines ewigen Rebellen, der gegen alles aufbegehrte. Sie passte nur nicht zu der Musik, die er machte. Aber irgendwie schien das die breite Masse gar nicht zu stören. Für den Mainstream war der energetische, gitarrenlastige Pop, für den er nun stand, verzerrt und rotzig genug, sodass man die Erzählung aufgriff und das Gesamtkonstrukt Billy Idol irgendwie weiterhin als Punk akzeptierte.

Der Ballast der Erwartungen hinderte ihn, wahre Größe zu finden

Vielleicht war der Aufstieg von Billy Idol ja wirklich das Ende des Punkrock. Denn ab jetzt verlor man sich in Phrasen, dass Punk ja alles sein könnte, selbst die bewusste Entscheidung, keinen Punk mehr zu machen, wäre noch irgendwie Punk, weil, na ja, keiner verstand, was dieses Wort eigentlich einmal bedeutet hat. Billy Idol selbst wusste es. Er gestand einmal, dass seine Musik vielleicht kein Punk mehr war, dafür dann aber zumindest Sex. Nun ja. Es konnte ihm auch ziemlich egal sein. Mit Songs wie „Rebel Yell“ oder „White Wedding“ wurde er zu einem gefeierten Rockstar.

In den 1980ern feierte er seine großen Erfolge, aber es lag der Ballast auf ihm, seiner Punk-Klischeerolle gerecht zu werden. In den 1990ern schrieb er mit „Charmed Life“ sein wohl bestes und mit „Cyberpunk“ sein bis heute interessantestes Album. Aber das war ein so gewaltiger Flop, dass er sich davon viele Jahre kaum erholen konnte, es war auch in nur sehr wenigen Aspekten ein wirklich gutes Album, aber es war etwas Neues. Gewagtes. Zumindest hier war das Punk-Suffix im allerweitesten Sinne gerechtfertigt. Dennoch: Idol wurde nicht mehr dem Bild gerecht, dass er selbst von sich entworfen hatte, stürzte ab, verlor sich in Alkohol, Heroin und sonstigen Eskapaden. Und verschwand.

Mit „Devils Playground“ (2005) und „Kings & Queens of the Underground“ brachte er zwei ganz passable Comeback-Alben heraus, die von der Kritik zwar gemocht wurden, aber keine tiefen Spuren in der Geschichtsschreibung der modernen Popkultur hinterlassen haben. Zu sehr lag jetzt der Ballast auf seinen Schultern, seinen Sound für eine ganz neue Generation, die ihn noch gar nicht kannte zu gestalten. Vielleicht hat Billy Idol es nie geschafft, einer der ganz Großen des Rock‘N‘Roll zu werden, weil er nie ganz das sein konnte, was er wollte. Immer versuchte er den Erwartungen seiner Zeit gerecht zu werden. Rebell hin, Rebell her.

Und jetzt, 45 Jahre nach seinem Solodebüt, bringt Billy Idol sein gerade einmal achtes Studioalbum auf den Markt. Und macht sich endlich wieder frei von all den Erwartungen, Bildern und Rollen, in denen er sich mal verfangen hat. Er macht einfach Musik, die kein Anspruch mehr hat, irgendwem gerecht zu werden. Sein Fake-Punk-Image ist Idol heute so egal wie der krampfhafte Versuch, einen Hit zu produzieren oder einem Sound zu entsprechen.

Mal gibt er sich synthetisch-poppig verträumt auf dem Titeltrack des Albums, mal huldigt er dem Punk-Pop-Revial auf „Too Much Fun“, dann gelingt ihm mit „Still Dancing“ eine grandiose Selbstreferenz auf „Dancing With Myself“, seinem ersten großen Hit. Mit „Gimme the weight“ gelingt ihm eine großartige Pophymne. Nicht alle Songs sitzen, auf einigen der Produktionen wirkt Idols Stimme müde und kraftlos, aber das möge dem Mann verziehen sein, der in seinen nunmehr 69 Lebensjahren so einige Kämpfe, Exzesse, Unfälle und eine schwere Heroinsucht überstanden hat. Billy Idol legt auf dem Album jede verbliebene Attitüde eines Punks ab, mit der er noch so lange kokettiert hat.

Musikalisch ungezwungen setzt sich das Album inhaltlich mit seinem bisherigen Karriereweg auseinander, ist eine nicht sonderlich tiefe, aber doch gelungene Reflexion eines Lebens zwischen den Stühlen, gewidmet der Revolution, dem ständigen Aufbegehren und dem Wunsch, dabei massentauglich zu bleiben. Seine Reflexion illustriert er, in dem er sich Avril Lavigne als Featuregast für die Single „77“ ausgesucht hat.

Avril Lavigne, die sich in den frühen Nullerjahren auf dem Höhepunkt des Alternative-Rock-Hypes als Punk-Prinzessin feiern ließ, auf Popstars wie Britney Spears herabblickte, sich aber ihr komplettes Debütalbum vom Hitproduzenten-Trio The Matrix schreiben, einspielen und produzieren ließ. Auch Avril Lavigne war so ein perfektes Missverständnis der Popindustrie. Eine inszenierte Rebellin, ein zurechtgemachtes, kamerataugliches Contra, ein vom Mainstream vermarktetes Stück Anti-Mainstream. „77“ wird so zu einem Höhepunkt des Albums.

Das Beste an „Dream Into It“ ist aber, dass Idol hier alle Zwänge ablegt. Er will hier keinem Bild mehr gerecht werden. Sondern einfach nur noch Musik machen. Die gelingt ihm mal mehr und mal weniger gut, fühlt sich aber so frei an wie schon lange nicht mehr.

Dennis Sand schreibt über Zeitgeist, Popkultur und außergewöhnliche Geschichten und Biografien. Er veröffentlichte Bücher gemeinsam mit Jan Ullrich, Bushido und anderen, die sich monatelang in der „Spiegel“-Bestsellerliste hielten.

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