Erstaunlich, dass vorher noch niemand darauf gekommen ist, zum Gallery Weekend Berlin Kunstwerke in den Schaufenstern eines Warenhauses zu präsentieren. Dabei gibt es kein passenderes Symbol für den Jahreshöhepunkt der 52 Berliner Top-Galerien. Sie sind ja in gewissem Sinne ebenfalls Kaufhäuser, wenn auch solche für eine kleine, illustre Klientel.
Tatsächlich liegt der Gründung des Galerienwochenendes vor 21 Jahren die Idee zugrunde, Sammler und Kunstexperten geballt in die Stadt zu holen, um Berlin als Standort des Kunsthandels zu stärken. Daraus wurde ein Vorbild für Metropolen in ganz Europa – und eine Berliner Attraktion mit massenweise Veranstaltungen auch von Kunstakteuren, die nicht zur exklusiven Liste der Veranstalter zählen.
Die offiziellen Teilnehmer des Gallery Weekend Berlin bemühen sich, ihre Gäste jedes Jahr mit neuen, ungewohnten Kunstorten zu überraschen. Wenn nun also das KaDeWe, Deutschlands berühmtestes (und seit vergangenem Jahr insolventes) Luxuskaufhaus bis zum 10. Mai 2025 als Galerie fungiert, dann steht das für den Humor und den Überlebenstrieb der Hauptstadt, deren Kunstszene sich wiederholt als erstaunlich resilient erwiesen hat. Auch wenn das mit dem Markt-Hotspot nie so richtig klappen wollte.
Kurator Sebastian Hoffmann gelingt ein Coup
So steht man jetzt vor der wuchtigen Fassade an der Tauentzienstraße und blickt statt auf Mode von Louis Vuitton und Hermès in die Installationen von zehn Künstlern – und freut sich über den Coup, den der Kurator Sebastian Hoffmann hier in den Schaufenstern des alten West-Berlin inszeniert hat.
Christian Jankowskis pinkfarbene Neon-Installation liegt die Skizze eines Poliers von der Baustelle des „berlin modern“-Museums zugrunde. Der Künstler hatte ihn gebeten, sein Traumschloss zu zeichnen. Alexandra Birckens Motorradtanks, an denen blonde Echthaarteile kleben, verbinden Mensch und Maschine zu seltsamen Cyborgs. Und John Miller verwirrt die Passanten mit rockigen Schaufensterpuppen, die sich zu einer Band formiert haben.
Von hier aus kann man die Galerien der „City West“ (im Marketing-Sprech) bequem erkunden. Am Fasanenplatz führt Mehdi Chouakri eine Doppelschau von Angela Bulloch und Sylvie Fleury aus den 1990er-Jahren wieder auf, damals wurden Fashion und Partys gerade Teil einer neuen, auf Partizipation angelegten Kunstästhetik. Die beiden hatten schon in New York einen Baby-Doll-Saloon mit strengem Verhaltenskodex für die Darstellerinnen („If you take drugs, try not to bring them to work with you“) veranstaltet.
Sie sangen in London Karaoke („Should I Stay Or Should I Go“), fertigten weiche Skulpturen in Form von Donuts und Raketen und zündeten Feuerwerke in Galerieräumen. Deren Schmauchspuren sehen aus wie hyperrealistische Wandmalereien – was sie bei Chouakri auch sind. Bei seiner Ausstellung von damals wollten Nachbarn die Feuerwehr rufen.
Man sehnt sich bei dieser poppig-frivolen Fröhlichkeit in die Zeit zurück, als Galerien wie Mehdi Chouakri, Schipper & Krome und Neugerriemschneider diese junge Kunst förderten und niemand es gewagt hätte, Männermalerei aus den 1980er-Jahren von Horst Antes, Dieter Krieg oder Arnulf Rainer zu zeigen, ohne sich zu blamieren. Heute geht das, da sind sich die Galeristen von Meyer Riegger, Friese und Michael Haas einig – auch wenn man darüber stolpern darf.
Denn: Berlin hat ja nun doch sehr viele junge, internationale Künstlerinnen zu bieten, die man heute mehr mit dem Vibe der Stadt verbindet als patiniertes Öl auf Leinwand. Das mag bei einer gediegenen Klientel womöglich Anklang finden, aber als Trend zum Gallery Weekend erstaunt es nur. Dagegen wirken Johannes Molzahns knallfarbige gemalte Mechanikwesen und Fantasiearchitekturen in der Galerie Berinson so neu, als stammten sie nicht aus den 1920er- und 1930er-Jahren, sondern aus der Zukunft.
Die Großgemälde von Anne Imhof bei der Galerie Buchholz zeigen, wie einnehmend Malerei mit einem Link zu neuen Technologien sein kann: Sie basieren auf per Smartphone abfotografierten Szenen aus Coming-of-Age-Filmen wie „My Private Idaho“, die für die Künstlerin als Jugendliche wichtig waren. Die Leinwände sind Bilder von Bildern von Bildern. In ihrer Verpixelung könnten sie auch etwas ganz anderes darstellen und das kollektive Bildgedächtnis fantasievoll verschwimmen lassen.
Hinten sind noch Imhofs Skizzen für ihre Megaperformance „Doom“ ausgestellt, die kürzlich in New York stattfand und sich – wie ihr gesamtes, von Melancholie, Ängsten und Unsicherheiten durchzogenes Werk – ebenfalls an Coming-of-Age-Motiven orientiert. Der eigens komponierte Soundtrack ertönt im Vorderhaus aus Boxen, die so organisch schwingend platziert sind, als würden sich Tänzer im Rhythmus winden.
Adoleszenz, gepaart mit Nostalgie ist auch der Grundtenor von Tobias Spichtig, der bei Contemporary Fine Arts ausstellt. „Taxi zur Kunst“ lautet der Titel seiner Schau, was dem eleganten VIP-Shuttle des Gallery Weekends ein geradezu altmodisches Bild entgegenstellt. Spichtigs Protagonisten, die er in Gemälde und Installationen übersetzt, haben den Charme von außerirdischen Goth-Gestalten, die blass aus leeren Augenschlitzen ins Nichts schauen. Nicht, dass man diese Ästhetik nicht schon kennen würde, etwa aus den frust- und frivolitätsgefüllten Seiten von Schulheften. Doch Spichtigs düsterer Kosmos ist konsequent durchgehalten, verlockend – und auch lustig.
Alles nur Charade?
Bei Societé betritt man eine bunte Märchenwelt. Marietta Simnetts Malereien, Skulpturen und Videos kreisen um mythologische Motive, die ja oft einen Moment des Übergangs beschreiben – eine Art von Pubertät, die sich auch in die figürlich-naive Malerei hineindeuten lässt. Eine Stimmung von Drama und Begehren durchdringt den Raum. Trotz der Farbwelt ist auch hier eine traumartige Melancholie spürbar.
So begegnen wir auf einem blau-grau-grünen Gemälde einem nackten Unterleib auf einem Stuhl, darunter zwei riesige, altmodische Damenschnürschuhe. Die Figur sitzt in einer Zimmerecke, der Boden ist gekachelt, auf den Wänden zeichnen sich harte Schatten ab, man spürt Zwang, Angst und Enge. Wer hier sitzt, das weiß man nicht: ein knochiges Mädchen, ein Mann? Simnetts Kunst ist ambivalent, worauf auch der Ausstellungstitel „Charade“ verweist.
Passend zu der Schau von Klára Hosnedlová im Museum Hamburger Bahnhof werden bei der Wentrup Gallery Webereien von Desire Moheb-Zandi präsentiert, womit nun schon zwei groß von der Luxusmodemarke Chanel geförderte Künstlerinnen in Berlin zu sehen sind. Moheb-Zandis Wandteppiche will man betasten und darf es auf Nachfrage sogar. Als Gewebe aus „upgecycelten“ Fäden und Naturfasern schreiben sie eine Handwerkstradition fort und erzählen von der hybriden Identität der in Berlin geborenen und in der Türkei aufgewachsenen Künstlerin mit iranischen und usbekisch-türkischen Eltern.
Einige Ausstellungen stechen auf diesem Gallery Weekend besonderes heraus, und sie liegen nicht im ehemaligen West-Berlin: Cyprien Gaillards hochtechnologischer 3D-Film bei Sprüth Magers ist ein völlig neues, umwerfend sinnliches Seherlebnis. Neugerriemschneider präsentiert neue Gemälde und einen frühen Film von Thomas Bayrle, dessen maschinenhafte Ästhetik zwischen Zimmerpflanzen und Massenproduktion jedes Jahr an Aktualität zunimmt.
Bei der Nome Gallery in der Potsdamer Straße kann man in einem von Danielle Brathwaite-Shirley entwickelten Videogame mit Gefühlen spielen. Und Jade Guanaro Kuriki-Olivo alias Puppies Puppies zeigt bei Trautwein Herleth in Kreuzberg eine vollends rätselhafte, Techno-Pop-Installation, in deren Zentrum die Dating-App Grindr steht.
Alles Kunst zum Nachfragen und genau Hinschauen: Mit Schaufenster-Shopping allein kommt man also an diesem Wochenende nicht weit. Aber die meisten Ausstellungen laufen noch bis Ende Mai 2025.
Gesine Borcherdt ist freie Autorin, Kunstkritikerin und Ausstellungsmacherin.
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