Ein sonniger Vormittag im Prager Industriequartier Vysočany. Schon an der Schiebetür des Firmengebäudes stechen drei comicartige Visagen ins Auge. „Das sind Roboter“, erklärt Dominik Gazdoš zum Logo seines Unternehmens, das Bookbot heißt und Bücher und Bots im Namen vereint. Gazdoš – 32 Jahre alt, kaum 1,70 Meter groß – ist der Typus CEO im Casual-Look.
Sein Büro: alles andere als chefig. Er bleibt noch kurz beim Roboter: „Ein tschechisches Wort, erfunden vom Schriftsteller Karel Capek“. Richtig, erinnert sich der Reporter und versteht erst jetzt den Hintersinn. Als Bot hat die Wortprägung aus dem Jahr 1920 heute, wo KI unser Leben fortlaufend mehr organisiert, Hochkonjunktur. Auch beim Handel mit gebrauchten Büchern auf digitalen Plattformen und deren automatischer Bepreisung durch IT-Systeme. Dem Business von Gazdoš.
Bookbot, das 2019 unter dem tschechischen Namen Knihobot gegründet wurde, hegt große Ambitionen. Das Start-up von Dominik Gazdoš will zur Handelsplattform Nummer eins für gebrauchte Bücher in Europa werden. Seit zwei Jahren beliefert man den deutschsprachigen Markt. Die Lage von Prag, auf halber Strecke zwischen Berlin und Wien, sei logistisch gesehen ideal. Bereits ein Drittel der 1,5 Millionen Gebrauchtbücher, die Bookbot auf Lager hat, seien deutschsprachig, berichtet Gazdoš. Wir sprechen Englisch, wobei er lachend vor den numerischen Tücken seines Akzents warnt, von wegen thirteen versus thirty.
„Schon in einem Alter, in dem andere zur Schule gehen, wurde ich Buchhändler“, erzählt er und erklärt, keinerlei Schulabschluss zu haben: „Schule war langweilig. Ich ging nicht hin, weil ich zu Hause saß und las. Ich flog mehrmals von der Schule, brach mit 16 endgültig ab.“ Wie jedes Start-up bietet Bookbot eine Gründungslegende, die erzählt, wie die Geschäftsidee entstand. Bei Dominik Gazdoš ist es ein Buch, das – wie es im Buchhandelsjargon heißt – gerade „nicht lieferbar“ war, ein Buch des polnischen Schriftstellers Andrzej Sapkowski. Der ist als Fantasy-Autor heute weltbekannt, seine Geralt-Saga um den gleichnamigen Hexer wurde als Netflix-Serie „The Witcher“ verfilmt. „Allerdings las ich seinerzeit nicht den ‚Witcher‘, sondern Sapkowskis Mittelalter-Trilogie, in der es um die tschechische Hussitenbewegung geht“ (auf Deutsch unter dem Titel „Narrenturm-Trilogie“ bei dtv erschienen, Anm. d. Red.), so Gazdoš. Damals sei Band zwei in sämtlichen tschechischen Buchhandlungen ausverkauft gewesen und in Online-Gebrauchtbuchbörsen dreimal so teuer wie neu. Das habe ihm die Augen geöffnet für den Wert und die Bedeutung von Secondhand-Büchern.
Wie sehr der Handel mit Büchern aus zweiter Hand floriert, bildet sich in offiziellen Statistiken bislang kaum ab. Seit 2018 konstatiert die deutsche Buchbranche einen massiven Käuferschwund, hat aber nie erfasst, dass große Second-Hand-Buchhändler wie Medimops (Jahresumsatz 2023: 347 Millionen Euro) traditionelle Platzhirsche wie Hugendubel (2023: 294 Millionen Euro) in den Bilanzen längst übertreffen. Immer mehr Menschen kaufen gebrauchte Bücher. Weil sie schnell verfügbar sind.
In Frankreich hat die Kulturpolitik den Secondhand-Buchmarkt viel besser im Blick, dort hat das Kulturministerium 2023 eine große Studie über „Le Livre d’occasion“ in Auftrag gegeben. Auch wenn der Börsenverein des Deutschen Buchhandels qua Tradition und Satzung auf Neuware ausgerichtet ist, sollte seine Marktforschung den immer relevanteren Recommerce-Sektor des Buchmarktes nicht ignorieren.
Bücher wirft man nicht weg
„Es gibt keinen Grund, wieso Bücher nicht mehrmals verwendet werden sollten“, sagt Gazdoš. Denn Bücher stünden für Inhalte und Emotionen, sie hätten für die meisten Menschen einen ideellen Wert, selbst wenn sie sie nicht lesen oder behalten wollen. Selbst in einer Wegwerfgesellschaft sei das Buch kein Gut, das man in der Papiertonne wissen wolle.
Der Konsum von Büchern hat sich durch Recommerce-Plattformen wie Rebuy, Medimops oder Bookbot demokratisiert und zugleich dynamisiert. Klassische Kunden, die früher durch Leihbibliotheken oder Buchclubs bedient wurden, können Bücher heute so niedrigschwellig wie nie erwerben und weiterverkaufen, denn – das wird von Bildungsbürgern, die sich Thomas Mann fürs Leben zulegen, oft vergessen – viele Leser halten es keinesfalls für nötig, sich mit Büchern, die sie im besten Fall einmal lesen, lebenslänglich einzurichten. Auf BookTube, BookTok oder Bookstagram (den buchaffinen Bereichen der sozialen Netzwerke YouTube, TikTok, Insta) kann man Zeuge davon werden, wie selbstverständlich User Lesewünsche heute auf Verdacht kaufen, um sie leichtfertig wieder zu verbannen. Buchkäufer und Buchleser waren noch zu keiner Zeit identische Wesen und mit Bookbot & Co fällt das Switchen von geplanten zu abgebrochenen oder verworfenen Lektüren so leicht wie nie.
Wer jemals eine ganze Masse Bücher loswerden wollte, wegen Umzug oder weil der Haushalt eines Angehörigen aufzulösen war, hat die Erfahrung gemacht, von der Dominik Gazdoš jetzt erzählt: Klassische Antiquariate oder auch Bibliotheken nehmen nicht einfach einen x-beliebigen Schwung Bücher in ihre Sammlung auf. Es sei ein weitverbreiteter Irrglaube, zu denken, nur weil eine Einrichtung Bücher sammele, passe jedes Buch in jede Sammlung. Das Gegenteil sei der Fall. Deshalb seien Bücher, die vererbt werden, abgesehen von Raritäten inhaltlich und materiell meistens viel zu alt, um noch einen Wert zu haben, so Gazdoš. Als guter Geschäftsmann plädiert er dafür, Bücher möglich früh in den Umlauf zu bringen, damit ihnen ein zweites Leben beschert ist.
Wer Bücher bei Bookbot oder Mitbewerbern der Branche abgibt oder einliefert, darf allerdings nicht hoffen, reich zu werden, der einzige Vorteil ist, dass man Bücher dort schnell und auf einen Schlag loswird. Das ist allemal motivierender, als sie einzeln selbst und über Monate erfolglos bei Amazon Marketplace oder Ebay einzustellen. Bookbot verspricht jedem, der die Buchrücken seiner Büchersammlung abfotografiert, binnen 24 Stunden eine Antwort, ob diese Bücher angenommen werden. Die Bände kann man dann entweder von einem Kurierdienst kostenfrei abholen lassen oder, etwa in Berlin, in ausgewählten Partnerbuchläden abgeben. Geld für die einzelnen Bücher sieht man bei Bookbot allerdings erst, wenn ein Buch real weiterverkauft wurde. Dann gilt die Regel, dass man 60 Prozent vom Verkaufspreis erhält, abzüglich einer Gebühr von 1,19 Euro.
Von den Figuren der amerikanischen Tech-Konzerne imponiere ihm Amazon-Gründer Jeff Bezos, wegen der radikalen Fokussierung auf Kunden, sagt Gazdoš. Denn es gehe nie um etwas anderes, als den Leuten zu gefallen. Am meisten gefalle den Kunden im Gebrauchtbuchmarkt der günstige Preis. Da könne man noch so sehr Nachhaltigkeit oder Umweltschutz predigen. Überzeugen werde man allein mit Service und geringen Kosten. „Die beiden Wörter Ökonomie und Ökologie klingen nicht zufällig ähnlich“, glaubt Gazdoš. Der Claim auf den Bookbot-Lesezeichen, die jeder Bestellung beiliegen, lautet entsprechend suggestiv: „Lesen, lieben, weitergeben. Schone dabei die Umwelt und deinen Geldbeutel“. Man darf ein gutes Gewissen haben, soll sich aber für den günstigen Preis nicht schämen müssen.
Jetzt aber noch eine Speed-Führung durchs Unternehmen, das in einer ehemaligen Metallwarenhalle residiert und dessen Lager einer riesigen, mehrstöckigen Bibliothek gleicht. Jedes eingehende Buch wird mit einem Coupon ausgestattet, der es lokalisierbar macht (zum Glück werden keine Sticker auf Buchrücken geklebt wie bei der deutschen Konkurrenz Momox!). Im Erdgeschoss hat Bookbot die Anmutung eines Frachtzentrums, weil hier einerseits emsig Bücherpäckchen für den Versand verpackt werden, und andererseits unablässig Ware eintrifft, mal in Bananenkartons, mal in ganzen Metallkäfigen. Aus rund einem Dutzend Sperrholzverschlägen, die an Fotokabinen in Fußgängerzonen erinnern, blitzt es ständig. Hier dokumentieren Mitarbeiter qua Foto den Zustand jedes einzelnen eingegangenen Buches. Im Unterschied zu anderen Gebrauchtbuchhändlern, bei denen man sich allein auf Text-Beschreibungen zum Buchzustand und zur Ausgabe verlassen muss, bekommt man bei Bookbot genau das Exemplar zu Gesicht, das man kauft.
Wert für die Branche
Gazdoš betrachtet gebrauchte Bücher aber nicht nur als Dienstleistung am Endkunden. Er sieht in Secondhand auch eine Funktion für die Branche. Viele Verlage würden Auflagen, sofern es sich nicht um Bestseller handelt, aus Lagerhaltungskosten heute knapp kalkulieren. Wenn ein Buch ausverkauft sei, lohne es sich für eine mutmaßliche Nachfrage von wenigen hundert Exemplaren kaum, eine Nachauflage in den Verkehr zu bringen. In diese Marktlücke stoßen Gebrauchtbuchhändler. „Wir halten Bücher lieferbar, die sich für Verlage betriebswirtschaftlich nicht mehr lohnen.“
Dieses Argument wird für den Besucher aus Deutschland besonders plausibel, wenn er an die Art und Weise denkt, mit der Verlage ihr Programm aus erster Hand heute lieferbar halten. Wer etwa bei Suhrkamp Klassiker aus der Backlist im Taschenbuch kauft, wird als Käufer enttäuscht, denn die Neuware entpuppt sich nicht selten als minderwertiges Print-on-demand-Exemplar. Dieses Verfahren wird ganz offiziell begründet: Es erlaube, „mit Ressourcen angemessen umzugehen und zu verhindern, dass zu viel Papier benutzt und bedruckt wird für Auflagenhöhen, die letztlich keine Verwendung finden“, argumentiert Suhrkamp auf seiner Website. Stattdessen ein Gebrauchtbuch zu kaufen, ist der faktisch oft einzige Weg, ein nicht ganz aktuell erschienenes Buch in guter Originalherstellung zu erhalten.
Über 1000 Teilzeitkräfte, vorwiegend Studenten, und 70 Vollzeitkräfte, darunter Dutzende Programmierer, sind für Bookbot tätig. Bei so viel smartem, IT-basierten Umgang mit Büchern muss eine Frage erlaubt sein: Glaubt Gazdoš an die Zukunft des papierenen Buches? Die Antwort ist ein eindeutiges Ja: „Gedruckte Bücher beweisen seit 500 Jahren, dass sie gegen Disruption geschützt sind“. Handschlag und Ahoi, der CEO huscht zurück an seine Rechner, die den Gebrauchtbuchmarkt wie ein Superbot steuern.
Der Unternehmer Dominik Gazdoš wurde 1993 in Zlín (Tschechien) geboren und ist ein Selfmademan. Mit 16 Jahren brach er die Schule ab. Ohne Ausbildung oder Studium sammelte er Erfahrungen als Antiquar und mit einem ersten Online-Shop für Gebrauchtbücher. 2019 gründete Dominik Gazdoš mit seinem Bruder das Prager Unternehmen Knihobot.cz, als dessen CEO er fungiert. Die Online-Plattform, die international unter dem Namen Bookbot agiert, kauft und verkauft gebrauchte Bücher, der Jahresumsatz entwickelte sich rasant von 0,7 Millionen Euro (2020) auf 24 Millionen Euro (2024). Bookbot.de bedient auch den deutschsprachigen Raum und will zur Nummer eins für gebrauchte Bücher werden. Gefragt nach Vorbildern, nennt Gazdoš den legendären Schuhindustriellen Tomáš Baťa und Amazon-Gründer Jeff Bezos.
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