IIm Frühling des Jahres 1983 fühlte sich der amerikanische Schriftsteller John Gregory Dunne bemüßigt, dem Präsidenten der Firma American Express zu erklären, warum er eine Mitarbeiterin des Unternehmens am Telefon als „dumme Fotze“, ihren Chef aber als „verficktes dummes Arschloch“ tituliert hatte. Es war nämlich so: Dunne hatte in Paris versucht, Tickets für die Concorde zu kaufen, die ihn und seine Frau mit Überschallgeschwindigkeit nach Hause, also nach New York, tragen sollte.
Und American Express hatte die Zahlung verweigert, Begründung: Seine Ausgaben seien zu hoch. Dabei habe er seine Rechnungen doch stets pünktlich bezahlt! So stand John Gregory Dunne plötzlich mit einem Kärtchen in der Hand am Flughafen Charles de Gaulle, das nur noch viereinhalb Cents wert war (so viel hatte vielleicht das Plastik gekostet, aus dem es gefertigt war). Dies, so der Schriftsteller, rechtfertige doch wohl seinen telefonisch geäußerten Wunsch, besagtes Plastikkärtchen recht hoch in den Anus des Mitarbeiters zu befördern.
Joan Didion, die berühmtere Gattin des Schriftstellers, hielt ungefähr in derselben Zeit auf einem mit Maschine beschriebenen Blatt Papier gesundheitliche Probleme fest: „Diesen Morgen gingen wir im Park spazieren“, notierte sie. „Nach fünf oder zehn Minuten beschwerte ich mich bei John, dass ich einen Schmerz in meiner Brust und meinem Rücken verspürte. Der Schmerz war nicht ausgeprägt, aber er machte es mir schwer, Schritt zu halten, was mir sonst nie passiert.“ Joan Didion schaffte es am Ende mit Mühe und Not auf eine Bank, sie fühlte sich schwindlig, glaubte einen Moment lang, sie würde hinfallen. Schließlich gelang es ihr, nach Hause zu gehen, aber sie fühlte sich immer noch schwach. Das Herz? Klar, das Herz! Die bittere Pointe freilich steht nicht auf dem Blatt: Am Ende war es der wütende Mr. Dunne, der einem Herzanfall erlag. Die sensible Mrs. Didion überlebte ihn um beinahe zwanzig Jahre.
Normalerweise ist Raum 328 im Hauptquartier der New York Publik Library eher menschenleer. Aber seit April dieses Jahres versammelt sich im obersten Geschoss des Büchertempels an der Fifth Avenue eine stille Gemeinde von Fans, um das Privatarchiv von Joan Didion zu studieren. Man erkennt diese Gemeinde daran, dass sie sich pünktlich um elf Uhr vormittags vor der Glastür von Raum 328 anstellt: Alle haben ihre Straßenkleidung zwei Stockwerke tiefer an der Garderobe abgegeben. Taschen sind streng verboten, Kugelschreiber ebenso. Erlaubt hingegen: Laptops, Telefone, Ladekabel, manche tragen diese Gegenstände in durchsichtigen Plastiktüten bei sich. Jeder New Yorker, der über einen Bibliotheksausweis verfügt, kann sich in die Papiere vertiefen, die Didion und John Gregory Dunne hinterlassen haben. Allerdings muss man vorher einen Termin buchen. Die Mitarbeiterinnen sind dann sehr hilfreich: Der Leser muss sich in eine Liste eintragen und ein kurzes Vorstellungsgespräch absolvieren, anschließend wuchtet ein zartes Mädchen die Pappkartons, die er online bestellt hat, auf eine Art Tresen. Zu einem der Tische mit den Messinglampen tragen: Licht an, Karton auf.
Ich habe die Schriftstellerin genau einmal im Leben gesehen. Das war in einem Restaurant in der Upper East Side: eine sehr dünne alte Dame mit beinahe durchsichtiger Haut saß sie sehr allein und aufrecht auf ihrem Platz. „Schaut mal, da drüben ist Joan Didion“, flüsterten meine Tischgenossen, niemand brauchte den Hinweis, dass wir uns in Gegenwart einer Königin befanden.
Wenn Joan Didion nichts anderes geschrieben hätte als „Slouching Towards Bethlehem“, ihre Essays über die Hippies von San Francisco, die Ende der Sechzigerjahre erschienen (auf Deutsch lieferbar bei Ullstein), wäre dieser gebürtigen Kalifornierin ein Platz in den Annalen der amerikanischen Literatur sicher.
Hätte sie in den Achtzigerjahren nach der buchlangen Reportage „Salvador“ (über Korruption und Gewalt in Mittelamerika) den Stift aus der Hand gelegt, wäre sie unsterblich. Aber da sind auch noch ihre Romane: „Play It As It Lays“, „A Book of Common Prayer“, „Democracy“. Vor allem ist da „My Year of Magical Thinking”, ihr Buch über das Jahr, das sie nach dem Tod ihres Mannes durchlebte; es wurde zu einer Art Leitfaden für alle, die mit akuter Trauer beschäftigt sind.
Joan Didion konnte nichts wegwerfen
Offenbar gehörte Joan Didion zu den Leuten, die nichts wegwerfen können: In ihrem Nachlass finden sich Postkarten von Bekannten, Speisekarten von Restaurants, Visitenkarten, Katzenfotos, jede Menge Fanbriefe. Irving Kristol, der Urvater des amerikanischen Neokonservatismus, anno 1968: „Ich will nicht drum herumreden – Ihre neue Essaysammlung ist erstklassig.“ Louis Begley, der Autor von „Wartime Lies“, anno 2000: Er habe Didions Artikel über die Geschäftsfrau Martha Stewart gelesen – „es ist außerordentlich, wie Du sie zum Leben erweckst, obwohl es gar keine Interviews gab, nur indirekte Quellen“.
Ein Mitarbeiter von „Reader’s Digest“ möchte wissen, ob es denn wahr sei, dass der Harrison Ford einst die Regale in ihrem Haus in Malibu gebaut und dabei Bücher über das Tischlerhandwerk konsultiert habe. Didions Antwort: Im Prinzip ja, übrigens seien Harrison Fords Regale untadelig gewesen; aber Bücher über Tischlerei habe der Hollywoodstar bei der Arbeit nicht gelesen, das wäre ihr und ihrem Mann doch aufgefallen, schließlich hätten sie die ganze Zeit über im Haus gewohnt.
Sogar Briefe von Leuten mit Dachschaden werden (in einem Umschlag mit der Aufschrift „Wackos“) getreulich archiviert: Da ist die Frau mit dem Verfolgungswahn, da ist der Mann, der sich bemüßigt fühlt, ihr seine krausen Überlegungen über John Lennon, Aids und das amerikanische Finanzministerium mitzuteilen und mit der gönnerhaften Bemerkung schließt: „Ich bin nicht gegen das, was Sie schreiben.“
Auch Anrührendes findet sich in der Korrespondenz: Eine unbekannte Studentin, die wie Joan Didion unter Migräne leidet, bekommt eine seitenlange Antwort, die in die tröstende Erkenntnis mündet, dass man sich mit dieser Krankheit arrangieren könne. „Wir alle bilden uns ein, dass wir alles kontrollieren können, die Wahrheit ist aber, dass wir das nicht können, und die Migräne ist ein Modell für all die Dinge, die wir nicht kontrollieren können!“
Die Notizbücher von Joan Didion lesen sich wie Geheimcodes. Viele Seiten sind mit einer nicht entzifferbaren, aber sehr hübschen winzigen Handschrift bekritzelt; daneben gibt es Blätter in Ringbüchern, die säuberlich mit Maschine getippt wurden. „LEUTE“, ist eine Seite überschrieben. Darunter: „Die Frau von Dick Ullman. San Antonio. Rhodes nach Oxford.“ Und: „Das schwarze Mädchen in dem Soup Burg an der Ecke Madison und 96. Straße, das Paris Match liest.“ Plötzlich ein Zitat aus dem Nirgendwo: „Diese Mädels sind auf barmherzige Weise ohne Geschlechtstrieb.“ Experten können uns vielleicht verraten, in welche Essays, in welchen Roman diese Splitter Eingang gefunden haben. So, wie Joan Didion alles aufhob, scheint sie auch ihren Beobachtungsapparat keine Sekunde lang ausgeschaltet zu haben: Potenziell war alles interessant, jede Nichtigkeit konnte zu einer Wichtigkeit werden, wenn sie nur ins rechte Licht gerückt wurde.
Und dann gibt es diesen einen Moment, wo dem Leser das Herz bricht. In einem Notizbuch taucht plötzlich eine andere Handschrift auf, nicht fein ziseliert, sondern groß und teenagerhaft ungelenk: „Zulassungskriterien?“, steht dort. „Wie wichtig sind Noten? Wie viele Studenten leben auf dem Campus?“ Kein Zweifel, diese Sätze stammen von Quintana, der Adoptivtochter von Joan Didion und ihrem Mann. Wir lesen sie in dem Wissen, dass Quintana im Alter von 39 Jahren an einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse starb, nur wenige Monate nachdem John Gregory Dunne gestorben war. Joan Didion hatte gerade das Manuskript zu „My Year of Magical Thinking“ fertiggestellt hatte.
Gleich nach dem Tod ihrer Adoptivtochter begann für Joan Didion eine ausgedehnte Lesereise; später behauptete sie, die Erfahrung sei für sie „therapeutisch“ gewesen. Die handschriftlichen Notizen in dem schwarzen Büchlein sind ein bisschen wie die Haushaltsgegenstände, die Mosaiken, die Wandkritzeleien in Pompeji: Wir wissen, dass der Vulkanausbruch stattgefunden hat, aber die Todgeweihte hat noch keine Ahnung, und die Mutter ist der festen Überzeugung, sie werde ihr Kind heranwachsen sehen. Was für eine Gnade, dass wir die Zukunft nicht kennen!
Monate würde es dauern, Jahre, bis man alle 336 Kartons von Joan Didion und John Gregory Dunne durchgearbeitet hat. Nicht nur Handschriften und Briefe finden sich in diesem Archiv, auch Filme und Tonträger. Drehbücher (Didion und Donne verfassten unter anderem das Skript für „A Star Is Born“ mit Kris Kristofferson und Barbra Streisand). Kunstwerke von Quintana. Irgendwann stellt sich beim Sichten der Materialien ein unbehagliches Gefühl ein: Schließlich liest man die Briefe fremder Leute, man schnüffelt in ihren Geheimnissen herum, man schaut ihnen quasi ins Gehirn. Wie halten Biografien das aus? Ist es ihnen nicht peinlich? Und was ist der Antrieb der Didion-Gemeinde, die sich im Raum 328 der New York Public Library versammelt?
Solche Gedanken passen zur Debatte, die in Amerika gerade um Didions „Notes to John“ geführt wird. Denn aus dem Nachlass ist just in diesen Tagen ein Buch erschienen, das auf einem 150-seitigen Dokument beruht, das kurz nach Didions Tod 2021 in ihrem Büro entdeckt wurde. Es handelt sich um Tagebuchnotizen zu ihren Psychotherapiesitzungen zwischen 1999 und 2002. Die Meinungen darüber, ob derartige Notizen veröffentlicht werden sollten, gehen selbst im Kreis von Didions engsten Weggefährten auseinander: Die einen finden die Notate zu intim, die anderen betonen ihren literarischen Wert.
Die gute Nachricht ist, dass Joan Didion auch dann enigmatisch bleibt, wenn all ihre Notizbücher entziffert sind. In ihren Essays und Reportagen ist sie eigentlich nur als Stimme gegenwärtig, eine leicht spöttische Stimme, der nichts Menschliches fremd ist. Was das Wesen dieser Stimme ausgemacht hat, wird auch der nicht ergründen, der alle 336 Kartons dieser Sammlung durchgearbeitet hat.
Joan Didion wurde 1934 in Sacramento (Kalifornien) geboren und arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und Magazine, unter anderem als Redakteurin der „Vogue“. Als Schriftstellerin wurde sie neben Romanen wie „Spiel dein Spiel“ vor allem mit Essays und Reportagen zur Legende, darunter „Slouching Towards Bethlehem“ über den Lifestyle der Hippies und das Trauerbuch „Das Jahr magischen Denkens“. Didion starb 2021 in New York. Seit Kurzem ist ihr Nachlass an der New York Public Library für die Öffentlichkeit zugänglich.
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