Unordnung und frühes Leid, Verwirrung der Gefühle, Ungeduld des Herzens. Darum und um vieles mehr – Heranwachsen, Verführung, Zurückweisung, Abnabelung, die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, die nicht patriarchal ist – geht es in „Demian. Geschichte einer Jugend“. Den 1919 veröffentlichten, einst spektakulär diskutierten, heute ein wenig angegilbten Roman Hermann Hesses, der noch nie vertanzt wurde, möchte Demis Volpi am 7. Juli auf die Bühne des Hamburg Ballett bringen. Dafür steckt er gerade mitten in den Proben im Ballettsaal.

Doch diese bisher mittels Fiktion behandelten Themen sind für den seit dieser Spielzeit an der Alster amtierenden argentinisch-deutschen Choreografen plötzlich sehr real. Denn mehr als die Hälfte der Menschen, mit denen er täglich zusammen ist, für die er kreativ sein soll, haben ihm per offenem Brief das Misstrauen ausgesprochen. Schlimmer noch, fünf seiner besten Solistinnen und Solisten haben bereits gekündigt.

Wirklich überraschend kommt das nicht, nur ist das Timing geradezu perfide. Denn in der Hansestadt läuft ein gerade in der Tanzwelt nie dagewesenes Experiment: Wie gestalten sich nach 51-jähriger und höchst erfolgreicher, vom Publikum wie dem Ensemble getragener, alle Rekorde brechenden Regierungszeit von John Neumeier Übergang und künstlerischer Neuanfang?

In die Krise geschlittert

Man muss dafür – abschreckendes Beispiel – nur nach Wuppertal schauen. Dort hatte von 1973 bis zu ihrem überraschenden Krebstod 2009 Pina Bausch mit ihrem Tanztheater Einzigartiges und Weltberühmtes geschaffen. Nach dieser Zäsur wurstele man zunächst als Museum seiner selbst weiter, verschliss aber auch einige Gruppenmitglieder als Leiter. Inzwischen wurden drei weitere Leiter (meist) gegangen; gerade hat, nach zweieinhalb Spielzeiten, der französische Choreograf Boris Charmatz hingeschmissen.

Anders als in Hamburg ist hier freilich vor allem Pina Bauschs Sohn und Erbe Salomon Bausch am kreativen Desaster mitschuldig. Er hält die Rechte an ihrem Repertoire, ist eher schwierig und oft realitätsfremd in Umgang; ohne ihre Stücke ist die Truppe aber nichts. Beim Hamburg Ballett jedoch sind die Hansestadt (mit deren Geld die mehr 170 Werke vorwiegend geschaffen wurden) und die Neumeier-Stiftung die Rechteverwalter. Deswegen sitzt mit dem Ex-Solisten Lloyd Riggins auch weiterhin ein Neumeier-Beauftragter in der Leitung. Doch hier geht es weniger um das Neumeier-Erbe, sondern den notwendigen Neuanfang, der jetzt in eine Krise geschlittert ist.

Wohlmeinende, auch dieser Zeitung, hatten den Verantwortlichen unter Führung des Kultursenators Carsten Brosda, geraten, für diesen heiklen Übergang vom charismatischen, unvermindert kreativen, die Truppe dominierenden Neumeier übergangsweise einen erfahrenen, nicht choreografierenden Kurator zu suchen. Der hätte sich keinem Vergleich mit Neumeier aussetzten müssen, hätte leichter für Abstand und Neuausrichtung sorgen können. Doch man hat sich für einen jungen Kreativen entschieden, den heute 40-jährigen Volpi, hervorgegangen aus der John-Cranko-Schule, einige Jahre Tänzer im Stuttgarter Ballett (wie Neumeier) und nach maßvollen choreografischen Anfängen immerhin vier Jahre konfliktfrei als Nachfolger Martin Schläpfers Chef des Balletts am Rhein in Düsseldorf (auch das kein leichtes Erbe).

Volpis künstlerisches Potenzial ist freilich bisher nicht vergleichbar dem Neumeiers, der 1973 34-jährig in Hamburg antrat und erst mal die Hälfte der Tänzer herausschmiss, wie auch das bis dahin klassische Repertoire (was damals für sehr viel böses Blut und Schlammschlachten in der Presse sorgte). Hamburg war keine Ballettweltstadt, alles war wieder ruhig, als sich die ersten Neumeier-Erfolge einstellten.

Protest zur Unzeit

Jetzt sollte alles viel sanfter ablaufen. Volpi wollte sich als Choreograf zurückhalten, das überdominante Neumeier-Repertoire sollte langsam zurückgefahren werden. Dafür sollten endlich die Handschriften anderen Choreografen sichtbar werden, die hier über fünf Jahrzehnte nicht vorhanden waren. Drei Ballettabende hat Volpi für die erste Saison klug programmiert: einen Vierteiler mit einem Bausch-Jugendwerk, einem Hans-van-Manen-Klassiker, einem eigenen Stück und einem Werk des Amerikaners Justin Peck. Beim zweiten Abend wurde ein jüngeres, in Deutschland noch nicht gezeigtes William-Forsythe-Opus einer Uraufführung der weltweit gefragten Aszure Barton gegenübergestellt. Alles wurde von Presse wie Publikum akklamiert.

Und auf diese abstrakten Werke sollte nun, als Eröffnung der Balletttage, die Volpi-Uraufführung folgen. Für die nächste Spielzeit sind neben einer größeren Volpi-Übernahme, ein „Wunderland“-Abendfüller über Lewis Carroll und seine Alice von Ex-Bolschoi-Chef Alexei Ratmansky, ein Vierteiler mit Volpi, Angelin Preljocaj sowie Uraufführungen von Marcos Morau und Xie Xin angekündigt. Alles gut überlegt, mit großen Tanznamen prunkend.

In Berlin hat der auch nicht überbegabte, aber klug managende Christian Spuck beim Staatsballett den Neuanfang geschafft, doch dort lag die Truppe völlig am Boden. In Hamburg aber ist man selbstbewusst und verschworen, weiß, was man kann. Und fordert vehementer, hält die manchmal 16-stündige Anwesenheit Neumeiers in seinen Sälen für Normalität. Deshalb kracht es hinter den Kulissen, was auch, wie heute üblich, sofort öffentlich gemacht wird.

Die Kündigungen von vier Männern und einer Frau waren das eine. In der Tanzwelt an sich nicht so selten. Karrieren sind kurz, gefällt es einem an einem Ort nicht (mehr), orientiert man sich um. Von den Fünfen hat sich jetzt Alexandr Trusch sehr abfällig in den Medien geäußert, spricht Volpi künstlerische Potenz ab, wirft ihm und seiner neuen Mannschaft Abwesenheit, fehlendes Interesse, Inkompetenz und ein toxisches Arbeitsklima vor. Es fehle „Verständnis und Vision“. Der Brief der 36 legt nun nach. Volpi aber weist die Vorwürfe zurück, verweist auf seine stets offene Tür. Angeschlagen ist er in jedem Fall.

Natürlich kann niemand John Neumeier ersetzen, sollte es auch nicht. Doch die auf ihn eingeschworenen Protagonisten, verwöhnt in vielfältigen Handlungsballetten, werden sich umstellen müssen. Das hochsubventionierte Hamburg Ballett kann nicht nur Neumeier-Abspiel-Museum werden. In Hamburg muss es auch neu losgehen.

Schwierig ist der Zeitpunkt der Revolte, jetzt, wo der besonders vulnerable Volpi mit den Rädelsführern im Ballettsaal steht und Neues schaffen soll. Nun ist Kultursenator Brosda als Mediator gefragt, der dringend vermitteln und dafür sorgen muss, dass ein junger, womöglich überforderter Künstler nicht auf dem Scheiterhaufen der Unzufriedenheit landet. Dass Volpi kaum das Können Neumeier haben wird, hätte man vorher wissen müssen.

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