Carl Hegemann konnte sich freuen wie ein kleines Kind. Zum Beispiel, als er das Foto mit den Buchstaben im Wasser zeigte, die obere Hälfte ragt heraus, die untere ist verdeckt. Um welches Wort handelt es sich? Das Überraschende ist, dass es sowohl REALITY als auch BEAUTY heißen kann. Und darüber freute sich Hegemann ungemein, der außerdem sofort Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zog, je nachdem, welches Wort man als Erstes entdeckt hatte. Es war die Freude an der Doppeldeutigkeit, die der Dramaturg ausstrahlte – und die er bereitwillig und großzügig mit der Welt teilte.
Realität und Schönheit, das waren für den 1949 in Paderborn geborenen Hegemann Lebensthemen. 1969, in Adornos Todesjahr, begann er als junger Mann ein Studium der Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft in Frankfurt/Main. Schnell machte er Bekanntschaft mit dem nur ein Jahr später tödlich verunglückten Hans-Jürgen Krahl, dem vom Reaktionär zum Marxisten gewandelten Meisterschüler Adornos, auch der „Robespierre von Bockenheim“ genannt. Gemeinsam kämpfte man sich durch Hegel und studierte Marx. Die Frankfurter Schule prägte Hegemann für sein ganzes Leben.
Nach seinem Studium lehrte Hegemann Philosophie und Soziologie in Frankfurt/Main. Und er ging ans Theater, wo er als Dramaturg an zahlreichen Häusern arbeitete, von Tübingen, Freiburg, Wien, Bochum, Köln oder Zürich bis zu seiner wichtigsten Station an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Was er mitbrachte, war eine aufregende Mischung aus deutschem Idealismus – er hatte über „Identität und Selbst-Zerstörung. Grundlagen einer historischen Kritik moderner Lebensbedingungen bei Johann G. Fichte und Karl Marx“ dissertiert –, Materialismus und Popkultur.
Wenn Hegemann loslegte, kam er von Hölderlin über Marx bis zu „The Matrix“. Er ließ die Tradition des Geistigen lebendig werden und mit der Gegenwart zusammentreffen. Als Dramaturg war er kein stiller Zuarbeiter der Regie, sondern die Instanz, die über das Verhältnis von Theater und Welt, von Realität und Schönheit Auskunft zu geben hatte. Und das konnte manchmal dauern, war jedoch stets erkenntnisreich. Die Aufgabe des Dramaturgen sei, so schrieb Hegemann in seinem großen Buch „Dramaturgie des Daseins: Everyday live“, das Spezifische der Gegenwart und des Theaters einzufangen.
Zuletzt stand er selbst auf der Bühne
Hegemann, der insgesamt 15 Jahre an der Berliner Volksbühne tätig war, zuletzt unter Frank Castorf als Chefdramaturg, arbeitete mit Künstlern wie Christoph Schlingensief, Herbert Fritsch, Bert Neumann und René Pollesch zusammen. Er gab als nimmermüder geistiger Inspirator die Theorie zur Praxis und suchte immer wieder nach dem Rahmen des Theaters, auch in seinen zahlreichen Texten, die so schöne Titel haben wie „Spaß haben, die Welt retten und dabei Geld verdienen“ oder „Schaubühne als amoralische Anstalt und Friedrich Schiller als Marketingstratege“. So hat er die Dramaturgie neu erfunden.
Der Dramaturg als Theoretiker, wie Hegemann es verstand, muss der Welt mit philosophischer, soziologischer und ästhetischer Neugier gegenübertreten. Weil sich nämlich im Theater, wie er es verstand, der gesellschaftliche Mensch selbst beobachtet, bei einer existenziellen Verrichtung: dem Spielen. Hegemanns weiter Theaterbegriff folgte einer ästhetischen Anthropologie von Friedrich Schiller über Bertolt Brecht bis Erving Goffmann. Als langjähriger Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig gab er seine Vorstellungen an eine junge Generation weiter.
Hegemanns Tod kam überraschend, am 9. Mai 2025 erlag er einem Herzinfarkt. Vor ein paar Tagen kündigte der Alexander-Verlag noch eine Veranstaltung mit ihm an: Ende Mai sollte Hegemann gemeinsam mit Boris Groys dessen neues Buch „Zum Kunstwerk werden“ vorstellen, in dem es um Avantgardekunst und Selbstdesign geht. Hegemann und Groys waren ein vertrautes Duo, viele Gespräche zwischen den beiden wurden veröffentlicht, darunter eines aus der Corona-Zeit von – für die damalige Zeit – seltener Klarheit. Auch in „Zum Kunstwerk werden“ ist ein Gespräch zwischen Hegemann und Groys abgedruckt, nur live wird man es leider nie mehr zu sehen und hören bekommen.
Zuletzt stand – oder genauer gesagt: saß – Hegemann sogar selbst auf der Bühne, in Jette Steckels „Die Vaterlosen“ an den Münchner Kammerspielen, das vergangenes Jahr zum Berliner Theater eingeladen wurde. Er machte das, was er immer gerne machte: Er redete, mit verschiedenen Gästen. Drumherum das Tschechow-Drama und er, wie im Auge des Sturms, mittendrin. Man merkte, wie sehr es ihm gefiel und wie sehr er das Theater und seine Rolle darin mochte. Er hatte sein Biotop gefunden. „Die Theaterlüge stiftet Gemeinsamkeit“, schrieb Hegemann einmal. „Und das ist irgendwie sehr schön.“
Mit Hegemann verliert die deutsche Theaterlandschaft, wie sein „altes“ Theater, die Volksbühne, in einer Presseaussendung schreibt, eine ihrer zentralen Figuren. Schwer vorstellbar, seine noch im Alter beeindruckende Lockenmähne auf keiner Premiere mehr zu sehen. Mit seiner Mischung aus Neugier und Intellektualität hat er zu einer neuen Dramaturgie beigetragen, die um die Spiele der Gesellschaft kreist – dokumentiert unter anderem in dem lesenswerten Band „Dramaturgie des Daseins“. Carl Hegemann, der 76 Jahre alt wurde, hinterlässt mit der bekannten Autorin Helene Hegemann eine Tochter.
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