Fangen wir mal, weil man das vielleicht gerade in dieser Woche ganz besonders braucht, mit dem Positiven an. Also mit jenen ungefähr 75 Minuten, um derentwillen man „Solange du atmest“, den Bremer „Tatort“ unbedingt sehen muss.

Der ist ja gewissermaßen die Bärbel Bas, also das Arbeits- und Sozialministerium, des deutschen Sonntagabendkrimis. Die Kommissarinnen Linda Selb und Liv Moormann, die höhere Tochter von der aufrechten Gestalt und die Straßengöre mit der proletarischen Oberlippe, sind gern überall da unterwegs, wo es brennt in Bremen. Und in Bremen brennt es – das wissen wir, seit Luise Wolfram (Selb) und Jasna Fritzi Bauer (Moormann) zusammengespannt wurden – an allen Ecken und Enden. Selbst in Schwachhausen, wo Selb herkommt und in jedem Wohnzimmer ein Flügel steht.

Da kommen wir in „Solange du atmest“ natürlich nicht hin. Judith Westermann, die auch das Buch zur skurrilen neuen Wiener Bestatter-Serie „Drunter und Drüber“ geschrieben hat, macht ja sichtbar, wie es auf der anderen Seite der sozialen Schere aussieht, wie es sich dort anfühlt, wie man dort die Welt sieht, wie man da Opfer seiner Ängste wird und Spielball seiner Sorgen – als Alleinerziehende in einer Gesellschaft, der prekäre Existenzen so lange völlig egal sind, wie sie selbst nicht prekär wird.

Es beginnt mit einem Albtraum: eine Frau auf einem Spielplatz –und ihr Kind ist weg. Rani Ewers heißt die Frau. Mia heißt die Tochter, die allerdings bald wieder da ist. Zwischendurch ist die Kamera herumgeirrt, als sei sie Rani. Das wird sie noch häufig tun in den folgenden neunzig Minuten, ob man von Schwachhausen aus zuschaut oder von der Vahr, dem sozialen Brennpunkt des Stadtstaates, man wird von Regisseurin Franziska Margarete Hoenisch hineingezogen in Wahn und Welt der Rani Ewers. Schaut zu, wie sie, zittert mit ihr, fühlt sich bedroht, verfolgt.

Ein fast überflüssiger Toter

Womit wir bei der Leiche wären, die braucht es ja im „Tatort“, der schließlich kein filmisches Sozialamt, sondern der Sonntagabendkrimi ist. Was man diesmal besonders bedauert, weil die Geschichte ohne Kommissarinnen und sogar ohne den Toten am Strand vielleicht besser geworden wäre. Aber wir greifen vor.

Der Tote also liegt am Weserstrand, als Rani über den Spielplatz irrt. Sieht nicht gut aus, der Mann. Trägt eine komische Jacke. War mal Investigativ-Journalist. Und hat Rani verfolgt. Marek Korschak war mal mit Rani zusammen. Und muss sie irgendwie als seinen Besitz missverstanden haben. Diesen Wahn teilte er mit leider immer noch vielen Männern. Jetzt könnte man wieder das Wort toxisch verwenden für ihre Beziehung, aber das haben wir auf den Index der nicht mehr verwendbaren Wörter gesetzt.

„Solange du atmest“ jedenfalls zeigt in grandiosen Rückblenden, überfallartigen Flashbacks die ganze Zerrüttung, die Gift in Beziehungen hinterlässt. Das würde einem dennoch nicht so nah gehen, würde sich Via Jikeli in ihrer ganzen Zerbrechlichkeit und Stärke nicht so derart unter die Haut und ins Herz spielen. Man möchte ein Reservat bauen für diese Frau vom Rand, die sich verrennt zwischen Wahn und Wahrnehmung.

Wäre „Solange du atmest“ nur ihre Geschichte, hätte sie zwar einen anderen Sendeplatz und nur ein Drittel der Zuschauer, wäre aber sicherlich die bessere Geschichte geworden. Sie ist aber nun mal eine Mord-und-Totschlagsstory und Teil einer linearen Bremer „Tatort“-Geschichte. Teil einer Zickenkriegsgeschichte, die sich allmählich aufgebaut hat und in „Solange du atmest“ so giftig wird wie die Beziehungsgeschichte von Rani Ewers.

Ein Fall von Ressourcenverschwendung

Dass Jonathan Berlin, einer der hochbegabten jungen Schauspieler, als Marek Korschak nur in Rückblenden lebendig wird, sollte man beim hohen Filmgericht als Fall von schauspielerischer Ressourcenverschwendung zur Anklage bringen. Schlimmer noch ist allerdings die schlamperte Weitererzählung der horizontalen Beziehungskiste zwischen Selb und Moormann.

Horizontal erzählte „Tatort“-Geschichten sind gerade bei Sonntagabendkrimis aus kleineren Sendeanstalten, die an ihrem Personal nur einmal im Jahr weiterfeilen dürfen, ohnehin ein Kreuz. In Saarbrücken ist das so, in Bremen nicht anders. Westermann und Hoenisch geben sich zwar redlich Mühe, Ranis Kreuzweg mit dem dornenreichen Zickenkriegspfad zu verbinden, auf dem Selb und Moormann unterwegs sind. Man spürt aber gleich von Beginn der teilweise spiegelbildlich zu Ranis Ringen um ihr Leben inszenierten Parallelaktion an die Absicht und ist verstimmt.

Dabei war das mal eine gute Idee, die beiden zusammenzuspannen. Anfangs waren es Funken, die flogen, und man war froh, dass man die beiden hatte. Inzwischen ist es überwiegend Gift, was zwischen ihnen und von ihnen gespritzt wird, und man ist froh, wenn man sie eine Zeit lang nicht sieht, nicht an der Unterforderung von Luise Wolfram und Jasna Fritzi Bauer teilhaben muss und nicht am Fortschreiben einer Geschichte, der es gar nicht bedürfte und die wirklich erfolgreiche, wirklich langlebige „Tatort“-Teams wie die in München, in Köln, in Ludwigshafen auch nie gebraucht haben.

Vielleicht sollte man damit aufhören, solange einen das Gerangel von Selb und Moormann noch nicht völlig zerrüttet hat. Bevor wir jetzt mit etwas Negativem enden, von dem es ohnehin schon viel zu viel gibt: „Solange du atmest“ ist der Beweis, wie ein Sonntagabendkrimi über seine selbst gewählte Beschränkung triumphiert.

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