Niemand vermag genau zu sagen, wie oft Gérard Depardieu in seiner langen Karriere die roten Stufen von Cannes erklommen hat, ob zehn- oder fünfzehnmal, aber in einem sind sich alle beim Festival einig: Er wird da nicht mehr so schnell hochlaufen, nach seiner Verurteilung wegen sexueller Übergriffe. Cannes verzeiht dir, wenn du zwei schlechte Filme in Folge gemacht hast, aber es verzeiht keine ernsthaften Verstöße gegen seine Etikette. Lars von Trier wurde nach seiner flapsigen „Okay, ich bin ein Nazi“-Bemerkung sieben Jahre lang geächtet.

Dennoch, Depardieu ist kein großes Thema bei den 78. Filmfestspielen. Das „heilige Monster“, wie der Star in Frankreich lange genannt wurde, ist dem Festival eher peinlich. Jury-Präsidentin Juliette Binoche, die eine der frühen Unterstützerinnen von MeToo in Frankreich war, sprach – auf Nachfrage – davon, das Monster sei „entweiht“ worden. Und ja, vor MeToo sei solch ein Urteil in Frankreich nicht möglich gewesen.

Ansonsten debattiert Cannes manisch über Donald Trumps Ankündigung, „nichtamerikanische“ Filme mit einer hundertprozentigen Importsteuer belegen zu wollen. Die Debatten sind umso intensiver, weil immer noch keiner weiß, welche Art von Filmen mit Trumps Formulierung „foreign movies“ eigentlich gemeint sind. Man kann das an einigen der heiß erwarteten Filme des Festivals durchdeklinieren. Mascha Schilinskis „In die Sonne schauen“, der erste deutsche Wettbewerbsfilm seit Maren Ades „Toni Erdmann“ vor neun Jahren, würde ohne Zweifel unter „foreign“ fallen.

Aber was wäre mit Wes Andersons „Der phönizische Meisterstreich“ mit Scarlett Johansson, Tom Hanks und Benedikt Cumberbatch? Ein durch und durch amerikanisches Projekt, gedreht auf Englisch – aber großteils im Potsdamer Studio Babelsberg, mit einer Menge deutscher Fördergelder? Von Tom Cruises letzter „Mission Impossible“ wollen wir gar nicht reden. Der achte Teil nahm Fördergelder mit, wo er sie abgreifen konnte, in England, auf Malta, in Südafrika und Norwegen. Und wie müsste die Tatsache bewertet werden, dass auf dem Flugzeugträger George H.W. Bush gefilmt wurde, der zwar US-Staatsgebiet ist, sich aber in italienischen Gewässern vor Apulien befand?

Bei der totalen Internationalisierung des Filmgeschäfts ist kaum mehr zwischen „foreign“ und „domestic“ (einheimisch) zu unterscheiden, das sieht man nirgendwo besser als in Cannes. Was ist zum Beispiel mit „Das Verschwinden des Josef Mengele“ des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikow, der in Brasilien gedreht wurde, mit August Diehl und Burghart Klaußner in den Hauptrollen, in dem fast nur Deutsch gesprochen wird? Am ehesten bekommen die Amerikaner „reine“ Produktionen hin, wie Scarlett Johanssons „Eleanor the Great“ und Kristen Stewarts „The Chronology of Water“, für beide Schauspielerinnen Regiedebüts, die in Cannes uraufgeführt werden.

Auch die Franzosen besitzen noch eine intakte nationale Filmindustrie – und sind selbstbewusst genug, ihr Festival dieses Jahr mit dem Erstling einer studierten Designerin zu eröffnen, die zuvor nie einen abendfüllenden Spielfilm gedreht hatte. Dies hat wohl auch damit zu tun, dass von den 22 Wettbewerbsfilmen erstmals ein Drittel (sieben) von Frauen stammen, eine in Cannes bisher unerreichte Quote.

Amelie Bonnin ist 39 und ihr „Partir un jour“ die unspektakuläre Geschichte von einer Tochter, die die Fernfahrerkneipe ihrer Eltern verlassen hat, um in Paris als Star-Köchin ihr Glück zu machen. Es geht um den Gegensatz zwischen Metropole und Provinz, Haute Cuisine und Hausmacherküche, und vor allem darum, dass man erst gehen sollte, wenn man in seinem Leben klar Schiff gemacht hat. „Partir un jour“ ist einer jener Eröffnungsfilme, die bald vergessen sein werden, aber er ist wenigstens ehrlich und sympathisch.

Wenn man sich umhört, gibt es ein weiteres heißes Gesprächsthema, und das hat mit Kino gar nichts zu tun. Es betrifft insbesondere jene Filmleute, die mit einer Green Card oder einer begrenzten Aufenthaltsgenehmigung in den USA leben, aber keine amerikanischen Bürger sind; viele solche Menschen sind dieser Tage in Cannes versammelt. Sie alle treiben sich häufende Berichte um, dass Ausländer mit permanenter Aufenthaltsberechtigung durch die verschärften US-Grenzkontrollen entweder an der Wiedereinreise gehindert oder langwierigen Überprüfungen unterzogen werden.

Die Reeves Immigration Law Group, eine Anwaltsfirma, die für Hollywood-Studios arbeitet, gibt ihren Klienten inzwischen einen Leitfaden für den Grenzübertritt an die Hand: Schaltet Euer Handy aus und steckt es in das aufgegebene Gepäck, damit es bei der Grenzkontrolle nicht unmittelbar kontrolliert werden kann! Oder schickt die SIM-Karte postalisch an eure Heimadresse. Oder verwendet Wegwerfcomputer und -mobiltelefone, auf denen möglichst wenig von eurer Kommunikation verfolgt werden kann.

Druckt eure Reisedokumente aus, statt sie elektronisch vorzuzeigen, damit die Grenzer eure Handys nicht auslesen können. Oder löscht sämtliche Mails und SMS und Kommentare auf sozialen Medien, die Kritik an Trump und seiner Administration äußern. Solche Vorsichtsmaßnahmen war man bisher nur von Reisenden in die Volksrepublik China gewohnt.

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