Was muss das für eine Heidenarbeit gewesen sein, in der Recherche wie bei den Dreharbeiten: die originalgetreue Rekonstruktion des Filmklassikers „Außer Atem“ („À bout de souffle“) – Szene für Szene, Streit für Streit, Zigarette für Zigarette. Im Hintergrund fahren sekundengenau die Peugeots und Citroëns durchs Bild. Jean-Paul Belmondos Nase ist perfekt geknautscht, Jean Sebergs Augen blitzen so vor Stolz, wie sie sich in die Filmgeschichte eingebrannt haben. Auch die Tauben wirken gecastet. Angeblich liegt gar die Asche im Aschenbecher wie damals, 1959 in Paris, als ein todesmutiger Produzent (Georges de Beauregard, gespielt von Bruno Dreyfürst) so verrückt war, einem jungen Filmkritiker namens Jean-Luc Godard das Geld für sein Regiedebüt in die Hand zu drücken, eine kleine Geschichte um einen Gangster und seine Freundin, auf der Flucht vor der Polizei.
Godard darf bei der Gelegenheit sein berühmtes Diktum loswerden: „Alles, was man für einen Film braucht, ist ein Revolver und ein Mädchen.“ Als Zuschauer dieses Wunderwerks bei der Weltpremiere in Cannes fühlt man sich, als hätte man das Negativ eines Mythos gefunden – und sähe in Echtzeit in der Dunkelkammer bei der Belichtung zu.
Richard Linklaters „Nouvelle Vague“ ist ein irrwitzig präzises, uneingeschränkt nostalgisches und doch radikal gegenwärtiges Kunststück – ein Film über einen Film, ein Film über das Filmemachen, ein Film über die Idee des Filmemachens. Man sieht dem modernen Kino dabei zu, wie es sich selbst erschafft. Die Ironie ist dabei so extrem, dass sich Godard scheckig gelacht hätte: Im krassen Gegensatz zu Linklaters minutiöser Fleißarbeit ist die Nouvelle Vague als ästhetische Bewegung gerade für ihre Umarmung der Improvisation bekannt, ihr Bekenntnis zur Lebendigkeit und Spontaneität, ihren Verzicht auf alles Gestellte.
Godard schrieb das Skript für jeden Drehtag morgens im Café. Die Schauspieler bekamen es nie zu lesen. Sie spielten, und Godard sprang im Schatten der Kamera herum und soufflierte ihnen Text und Regieanweisungen. „Nicht spielen“, herrscht er sie bei Linklater an, „einfach sein.“ Später wurde nachsynchronisiert – was am Rauschen der kleinen Kamera lag, einem der ersten tragbaren Vollbildgeräte namens Caméflex, ihr einziger Nachteil, weswegen sich Filmregisseure bis dato nicht an sie herangetraut hatten.
Die Kamera steckte in einer zugedeckten Postkarre, darauf Pakete, an den Weihnachtsmann adressiert, damit die Passanten nicht merkten, dass sie gerade für die Ewigkeit auf Zelluloid gebannt werden – darunter zweckentfremdetes Filmmaterial, das eigentlich für Fotoapparate gedacht war. Der exzentrische Godard brauchte es für extreme Lichtverhältnisse und ließ es seinen Kameramann, der sein Handwerk als Kriegsfotograf in Vietnam gelernt hatte, kurzerhand zusammenkleben.
Mit anderen Worten: Die Nouvelle Vague war ein einziges Chaos. Linklater macht daraus ein Uhrwerk. Er ordnet das Durcheinander und systematisiert das Genie. Das funktioniert, weil Linklater so sehr Historiker wie Romantiker ist – wie man zuletzt bei der diesjährigen Berlinale feststellen konnte, wo er mit „Blue Moon“ einen in vieler Hinsicht verwandten Film vorstellte. Linklaters Liebe zu dieser tollkühnen Zeit, die ihn mutmaßlich selbst in seinen Anfängen mit „Before Sunrise“ inspirierte, durchdringt jede Einstellung. „Nouvelle Vague“ ist ein zärtlicher Kuss, so wie Belmondo ihn Seberg aufdrückt, immer wieder, bis der herrische Jungregisseur endlich zufrieden ist.
Alle Granden der „Cahiers du Cinéma“ haben ihre Auftritte: Truffaut (Adrien Rouyard), Suzanne Schiffman (Jodie Ruth-Forest) und Claude Chabrol (Antoine Besson). Auch Agnès Varda, Jean Cocteau, Eric Rohmer und Jacques Rivette sind kurz zu sehen. Besonders aber ist Guillaume Marbeck als Godard eine Offenbarung. In seinem Leinwanddebüt verkörpert er ihn überzeugend bis ins Zucken der Mundwinkel. Das Haar sträubt sich, die Kippe glimmt, die Arroganz schimmert. Das ist toxische Männlichkeit avant la lettre, die Reduktion des Regisseurs auf den Egomanen.
Godard, suggeriert Linklater, hat nicht nur das Kino verändert, sondern vor allem sich selbst als Held seines eigenen Films erfunden. So einer führt keine Dialoge, er äußert sich wie eine Sphinx, pustet abwechselnd Rauch und Rätsel in die kalte Pariser Luft. Jean Seberg hat so was von die Nase voll von diesem maßlosen Emporkömmling. Am liebsten dekretiert Godard Zitate von Leuten, die er auf Augenhöhe akzeptiert: Hugo, Gauguin, Marx. „Kunst ist entweder Revolution oder Plagiat“, lautet eines. Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte: Kunst ist Revolution und Plagiat. Wäre er nicht zufällig Regisseur geworden, hätte Godard auch in jeder x-beliebigen Bananenrepublik als Diktator anheuern können. Nur, wenn er sich um eine Zigarette krümmt, ist sein Zeigefinger nicht ausgestreckt, um mal wieder einem unwissenden Menschlein vor der Nase herumzuwedeln.
Täglich droht Seberg, das Set zu verlassen (ihre Ehe mit einem Mann, der ihr Godard empfohlen hatte, überlebte den fertigen Film nur um ein paar Tage). Zoey Deutch spielt sie nicht als ahnungslose Muse, sondern voller Widerborstigkeit und Eigensinn. Dass es überhaupt weitergehen konnte, lag offenbar einerseits an Godards atemberaubender Unverschämtheit, mit der er nichts gelten ließ, was seinem Projekt gefährlich werden könnte – kein Rumgeheule von Seberg, keine wüsten Drohungen seines Produzenten. Man versteht ihn, also Beauregard, der fassungslos mitansieht, wie das neue Talent, das sich ihm aufgedrängt hat, schon den ersten Drehtag nach zwei Stunden nonchalant beendet, weil ihm nichts mehr einfällt. Der Tipp, das genauso zu machen, kam von Jean-Pierre Melville, dem Regisseur von „Der eiskalte Engel“ und „Armee im Schatten“ – neben Roberto Rosselini eines von Godards großen Idolen.
Diese kleinen Scharmützel tragen den Film. Denn eigentlich passiert ja nichts weiter, außer der im Prinzip mäßig spannenden Rekonstruktion der Dreharbeiten. Es gibt keine Liebelei – auch wenn eine gewisse gegenseitige Sympathie von Belmondo und Seberg zart angedeutet wird –, keine Schießerei, jedenfalls nicht in Echtzeit. Natürlich sehen wir Belmondo schließlich taumeln, in der berühmten letzten Szene von „Außer Atem“, eine lange Pariser Straße entlang, bis sich schließlich Seberg belmondohaft über die Lippen streicht und ihr legendäres Schlusswort spricht: „Qu’est-ce que c’est dégueulasse!“ – „Wie abscheulich ist das?“
Einzig hängt die bange Frage in der Luft, ob Godards Guerillataktik aufgehen und der Film wirklich fertig werden kann. Die Filmgeschichte kennt die Antwort darauf. Im Abspann heißt es, Seberg, die sich im Alter von 40 Jahren das Leben nahm, habe danach noch viele Filme gedreht; in ihren Nachrufen hieß es jedoch, ihr Meisterwerk sei „Außer Atem“ – sosehr sie auch während der Dreharbeiten daran gezweifelt hatte. Der wahre Motor dieses Films ist das diebische Vergnügen, das jeder halbwegs passionierte Cineast dabei empfindet, der Entstehung einer Legende beiwohnen zu dürfen. Am Ende spiegelt sich der Schriftzug „Fin“ in Godards Sonnenbrille, die er nie absetzte, schon gar nicht im Kino.
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