Was verpasst man, wenn man zwei Wochen lang zehn Abende im Theater verbringt? Gar nicht mal so wenig. Vom 2. bis 18. Mai 2025 galt: Bertolt Brecht statt Deutscher Filmpreis, Pina Bausch statt Filmfestspiele von Cannes, Virtual-Reality-Installation statt Eurovision Song Contest. Als der neue Papst verkündet wurde, saß das Theatertreffen-Publikum passenderweise unter kopulierenden, kannibalistischen Nonnen in Florentina Holzingers Skandal-Oper „Sancta“.

Spektakulärer kann ein Vatikan-Ersatz die Kraft von Kirche und katholischer Spiritualität gar nicht aufrufen, nur um sie im gleichen Atemzug zu zerstören: Während sich der Saal mit dem Geruch gebratenen Menschenfleisches füllte, das zuvor live auf der Bühne einer Performance-Künstlerin aus der Haut operiert und dann von einer anderen Darstellerin verspeist wurde, sorgte eine kleinwüchsige Päpstin ebenso für Stimmung wie ein rappender Jesus und rollschuhfahrende splitternackte Nonnen.

Doch nicht alle Inszenierungen bewegten sich so nah am Geist der Zeit. Statt auf intellektuelle Erschütterung, kluge Zeitgeist-Einschübe oder aktuelle Debattenbeiträge setzte das Theater der Gegenwart – insofern man die Auswahl der Jury als repräsentativ erachten darf – auf imposante Kulissen und betörende Ästhetik. Geschichten fehlten genauso wie Vorhänge.

Viele Erzählungen (da, wo eine zu erkennen war) blieben blass, selbstverliebt – und oft schlicht langweilig. Nur wenige Inszenierungen schafften es, sich aus dem Käfig der hermetischen Selbstbespiegelung zu befreien. Der „Blutbuch“-Adaption des queeren Selbstfindungs-Romans von Kim de l’Horizon etwa gelang der schwierige Balance-Akt zwischen einer Feier nicht-binärer Lebensentwürfe auf der einen und der Würdigung des Alten und Traditionellen auf der anderen Seite. Die Magdeburger Inszenierung erzählte eine queere Sinnsuche ohne erhobenen Zeigefinger.

Am schicken Aussehen mangelte es den anderen, Relevanz und Schlagkraft vermissen lassenden Stücken nicht. „Bernarda Albas Haus“, ein beklemmendes Kammerspiel über repressive Familienverhältnisse vom Schauspielhaus Hamburg wartete mit einem ebenso faszinierenden Bühnenbild auf wie „Double Serpent“ aus Wiesbaden, ein surrealer Albtraum über sexualisierte Gewalt. „ja nichts ist ok“, die letzte gemeinsame Arbeit von René Pollesch und Fabian Hinrichs, ein Ein-Mann-Stück über Alltags-Diskussionen einer WG angesichts aktueller Krisen, erinnerte an ein David-Hockney-Gemälde, war aber so verplaudert und wenig mutig, dass man Erkenntnisse daraus nur ungern in seine eigene WG trug.

Neben „Sancta“ lieferten höchstens zwei Stücke lang anhaltenden Gesprächsstoff, da sie Sehgewohnheiten infrage stellten und Wahrnehmung destabilisierten. „Kontakthof – Echoes of 78“ wiederholte Pina Bauschs legendäre Tanz-Inszenierung von 1978 mit der gleichen Besetzung von damals. Es verblüfft, wie sehr sich die Tänzer, die inzwischen ein stolzes Alter von über 70 und 80 Jahren erreicht haben, mit der gleichen Anmut und Grazie bewegen wie ihre Abbilder aus der Vergangenheit. Jene erschienen als überlebensgroße Avatare im Raum oder als Film auf der Leinwand im Hintergrund. Fehlende Tänzer von damals ersetzte die Regisseurin Meryl Tankard nicht, sondern visualisierte sie durch das Betonen der Leerstelle.

Einen ähnlich beeindruckenden Dialog mit Vergangenheit und Zukunft, Toten und Lebenden, Virtualität und Wirklichkeit bietet die Virtual-Reality-Installation „[EOL] End of Life“, eine Koproduktion von DARUM und brut Wien. Jedem Besucher werden 9,6 Quadratmeter und eine VR-Brille zugewiesen. Was dann passiert, in den nächsten 90 Minuten, entzieht sich jeder Beschreibbarkeit – und sollte auch nicht verraten werden, um den Überraschungs- und Überwältigungseffekt, der sich im Minutentakt einstellt, zu bewahren. Vielleicht darf man ankündigen, dass man virtuellen Menschen begegnen wird, die einen mit lebensechten Augen anblicken, egal, in welchem Winkel des Raumes man steht. Dass man kurz davor sein wird, sich auf Sesseln und Betten niederzulassen, weil sie so echt aussehen, dass man die vorherige Warnung des Assistenten vergisst, sich auf keinen Fall auf etwas anderes als den Boden zu setzen – „denn es ist nicht echt“.

Dass man Welten sehen wird, wie man sie noch nie gesehen hat – brandende Meere, toxische Teiche, unendliche Hügel – und solche, die einem beklemmenden bekannt vorkommen: Schulen, Spielplätze, Clubs, Krebsstationen. Man fährt auf einem Floß, tanzt durch Untergrundwelten, lässt sich von einem toten Mädchen erklären, wie sie Abschied von ihren Eltern genommen hat. Und immer wieder hebt man Dinge auf mit seinen virtuellen Händen (das einzige, was man vom eigenen Körper noch sehen kann, der Rest liegt wie unter einem Unsichtbarkeitsumhang), besteigt Aufzüge in andere Dimensionen, und klickt auf die Knöpfe „Löschen“ oder „Erhalten“ – denn dem Spieler ist die unmögliche Aufgabe zuteil geworden, zu entscheiden, welcher Raum für immer gelöscht und welcher ins Metaversum integriert werden soll.

Mag sein, dass „EOL“ kein Theater im klassischen Sinn ist. Aber es ist genau jenes Unerwartete, für das man ins Theater geht.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.