Die am schwersten zu bekommenden Eintrittskarten in Cannes dieses Jahr führten nicht in Wettbewerbsfilme, nicht in Tom Cruises letzte „Mission Impossible“ – sondern in die Nebenreihe „Quinzaine“. Der Unterschied zwischen „The Chronology of Water“ von Kristen Stewart und „Eleanor the Great“ von Scarlett Johansson, den Regiedebüts der beiden Schauspielstars, lässt sich kurz zusammenfassen: Johansson wollte schon lange mal Regie machen – und Stewart wollte Regie führen.
Jede Sekunde von „The Chronology of Water“ ist von diesem absoluten Willen geprägt. Earl Cave (der Sohn von Nick Cave und eine der Hauptfiguren in dem Film) hat beschrieben, wie Stewart jeder Szene ihren Stempel aufgedrückt hat: Zu mir sagte sie: „,Earl, wenn du in diese Richtung blickst und dabei deinen Mund leicht öffnest, siehst du richtig scharf aus‘.“ Ein gestandener Schauspieler (Cave ist keiner, er ist erst 24) hätte sich das verbeten, aber die Episode illustriert, was man in dem fertigen Film sieht: Jede Einstellung ist eine Stewart-Kreation.
Am Anfang stand allerdings nicht Kristen Stewart, sondern Lidia Yuknavitch. Genauer: „The Chronology of Water“, die Memoiren einer vom Vater missbrauchten und von Selbstzweifeln geplagten jungen Frau, die 2011 herauskamen und im Netz schnell eine Kultanhängerschaft gewannen. Cave spielt Yuknavichs ersten Ehemann, einen viel zu netten Kerl, der nicht begreift, dass für seine Frau Liebe und Schmerz zusammengehören. „Es war eines von jenen Büchern, das ich mit all meinen Freunden zusammen laut lesen wollte“, beschrieb Stewart ihre Erfahrung, „eines jener Bücher, das sich wie ein Chor anfühlte, in dem man mitsingen will.“ Stewarts Film ist dieser Chor, und sie hat jede einzelne Stimme dirigiert.
„Chronology“ ist einer jener Filme, in denen die Gefühle, die tief in den Eingeweiden sitzen, alles sind – und Vernunft und Logik nichts. Eine Chronologie ist eigentlich etwas Beruhigendes, an der ordentlichen Reihenfolge kann man sich festhalten. In Stewarts Film kann man sich an nichts festhalten, so wenig wie dessen Protagonistin (gespielt von Imogen Poots, Stewart selbst tritt nicht auf), die von ihren Emotionen permanent fortgespült wird, und es ist nicht einmal das Auf und Ab einer Wellenbewegung, sondern eine einzige, scheinbar endlose hohe Welle.
Stewarts Gebrauch filmischer Mittel überträgt diese Intensität auf die Zuschauer: Sie springt ohne Einführung in die Szenen, sie zoomt wie wild, sie setzt harte Schnitte, sie zeigt nicht die ganze Lidia, sondern Großaufnahmen von vielsagenden Körperteilen, Händen, Haaren, dem Mund, der Füße. Eine ungeheure, fiebrige Energie steckt in ihrer Inszenierung und ihrer Montage, die dem Publikum kaum eine Sekunde Zeit lässt, von dieser permanenten Ekstase herunterzukommen. Beinahe unnötig zu erwähnen, dass Stewart in ihrer US-Heimat für so etwas kein Geld fand und zur Finanzierung nach Europa musste.
Mehrere Male malt Lidia ein Smiley auf ein mit Kondenswasser beschlagenes Flugzeugfenster. Wasser ist das Element, in dem sie sich wohlfühlt. „In Wasser“, sagt Lidia, „kannst du aus deinem Leben aussteigen.“ Im Wasser fühlt sie den Schmerz von sich abfallen. Deshalb beginnt sie zu schwimmen, trainiert sogar für die Olympia-Nationalmannschaft, aber Drogen versperren ihr diesen Fluchtweg. Den findet sie schließlich im Schreiben, in einem Uni-Kurs mit dem Schriftsteller Ken Kesey, von dem „Einer flog über das Kuckucksnest“ stammt und der von Jim Belushi gespielt wird.
Die eine riskiert alles, die andere nichts
„Erinnerungen sind Geschichten“, sagt Lidia einmal, und diese Geschichten müssen nicht dem entsprechen, was wirklich geschehen ist: „Du musst dir eine Geschichte zurechtlegen, mit der du leben kannst.“ Und dabei beobachtet Stewarts Film seine Hauptfigur, wie sie sich diese Geschichte aus den tausend Splittern ihrer Gefühle zusammensetzt. Man darf vermuten, dass Stewart in dieses Kaleidoskop nicht wenige Facetten ihrer eigenen Persönlichkeit hineingemixt hat.
Wenn „Chronology of Water“ der Film ist, der alles riskiert, dann ist „Eleanor the Great“ der Film, der keinerlei Risiko eingeht. Er stellt eine interessante Frage, auf die er nicht ernsthaft eine Antwort zu geben versucht. Er behandelt eine zweite interessante Frage und findet darauf relativ banale Antworten. Die erste Frage hat damit zu tun, dass Bessie, die Freundin, mit der die 94-jährige Eleanor Morgenstein das letzte Jahrzehnt zusammengelebt hat, stirbt. Eleanor zieht zu ihrer Tochter, aber die will sie in einem Heim unterbringen.
In einem Altentreff von Holocaust-Überlebenden beginnt sie plötzlich, ihre Geschichte zu erzählen – nur dass es nicht ihre Geschichte ist, sondern die ihrer verstorbenen Lebensgefährtin Bessie. Und damit sind wir in der Debatte, wer diese Geschichten erzählen darf, wie man sie nach dem Tod der letzten Überlebenden erzählen wird können, weshalb sich Menschen anmaßen, sie zu erzählen, obwohl sie sie gar nicht selbst erlebt haben, wie im Fall Wilkomirski.
Das jedoch ist eine Diskussion, die „Eleanor“ nicht wirklich interessiert, es ist nicht einmal ein Fall von Erinnerungsfälschung, sondern einfach der einer alten Frau, die sich einsam fühlt und Interesse für sich wecken möchte (und von der schon 95-jährigen June Squibb mit ungeheurem Lebensmut und unsentimentaler Chuzpe gespielt wird).
Deshalb konstruiert Johansson einen parallelen Strang über eine junge Journalistin (tragisch: ihre Mutter ist gerade gestorben) und ihren TV-Moderator-Vater (tragisch: seine Frau ist gerade gestorben), die in ihrem Schock nicht in der Lage sind, einander zu trösten. Letztlich läuft alles darauf hinaus, dass man seine Trauer mit anderen teilen soll, anstatt sie in sich hineinzufressen. Es ist ein Film – sympathieheischend, tränendrückend -, der hervorragend ins Netflix-Programm passen würde, aber nun eben in Cannes gelandet ist, weil das Festival Scarlett Johansson auf dem roten Teppich haben wollte.
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