In Cannes liegt auch vor dem Carlton ein roter Teppich. Man sollte ihn nicht mit dem vor dem Palais des Festivals verwechseln. Hier läuft nicht der offizielle Wettbewerb, nicht mal irgendeine Nebenreihe. Was hier veranstaltet wird, ist einfach der Versuch, im Schatten des bedeutendsten Filmfestivals der Welt zu glänzen. Klingt paradox, könnte aber klappen – weil Cannes im Mai so eine Strahlkraft besitzt.
Kevin Spacey, einstige Hollywood-Eminenz mit der Ausstrahlung kühler Überheblichkeit, soll dort am Dienstagabend einen „Award for Excellence in Film and Television“ überreicht bekommen – vom Better World Fund, einer Organisation, die sich bescheiden „strategische Innovationen im kollektiven Handeln zur Bewältigung der größten Herausforderung der Menschheit“ auf die Fahnen geschrieben hat. Viel weniger wird freilich nicht nötig sein, um Spacey zu rehabilitieren, nicht so sehr juristisch als, was sein Image anbelangt.
Den Rahmen dafür bildet die Jubiläumsgala jener Stiftung, die regelmäßig mitten im Festivaltrubel stattfindet und auf dessen Abglanz spekuliert. Ort der Ehrung ist, wie gesagt, das legendäre Grand Hôtel, das mit frivoler Nonchalance an der Croisette aufragt. Einst drehte hier Elton John das Musikvideo, das auch als Motto über dem Abend stehen könnte: „I’m Still Standing.“ Spacey soll für „jahrzehntelange künstlerische Brillanz“ und seinen „bleibenden Einfluss auf Kino und Kunst“ gewürdigt werden.
Es ist ein Satz wie aus einer anderen Zeit. Seit über sieben Jahren ist der Name Spacey aus den Annalen des Kinos getilgt. Höchstens kommt er in Nebensätzen vor, in Vergleichen und Fußnoten. Die Vorwürfe sexueller Übergriffe gegen ihn, von mehr als 30 Männern erhoben, reichen zurück bis ins Jahr 2017. Netflix zog damals umgehend Konsequenzen und feuerte den „House of Cards“-Star.
Inzwischen wurde Spacey, der die Anschuldigungen stets zurückgewiesen hat, in zwei großen Verfahren freigesprochen – 2022 vor einem New Yorker Zivilgericht, 2023 in London. Doch so tickt die Branche nicht. Rechtsstaatlichkeit ist weniger wert als Reputation. Und auch wenn es keine Verurteilungen gab – 30 individuelle Vorwürfe wiegen in der öffentlichen Meinung schwerer als ein einziger, der nie bewiesen werden konnte, wie im Fall Woody Allen. Und selbst der bekommt zumindest in Amerika schon lange keinen Fuß mehr auf den Boden.
In Spaceys Auszeichnung in Cannes könnte man also eine Art Testballon erkennen – dafür, ob die Filmwelt, neuerdings hypermoralisch angestrichen, aber immer noch mit keinem nennenswerten Langzeitgedächtnis ausgestattet, allmählich bereit ist, einen gefallenen Helden zu rehabilitieren. Ein Sprecher des Better World Funds ließ am Montag verlauten, man habe den Schauspieler eingeladen, weil er „von der Justiz freigesprochen“ worden sei. Einer der vier Männer, deren Klage vor zwei Jahren in London abgewiesen wurde, verfolgt den Schauspieler allerdings auch zivilrechtlich, weshalb ein weiterer Prozess droht.
„The Awakening“ heißt der Film, den Spacey im Rahmen des Marché du Film dieser Tage präsentieren lässt – einen obskuren Actionfilm um eine weltweite Verschwörung ohne weitere Starpower. Wie das Branchenmagazin „Variety“ berichtet, stecken die Produzenten dieses Films wohl hinter der Auszeichnung. Ob der Schauspieler selbst auf dem Festivalgelände erscheint, über dem am Dienstag heftige Schauer niedergingen, steht in den Sternen. Die Halböffentlichkeit scheint wohlkalkuliert. Wie zu erwarten, sind die Reaktionen geteilt. Die einen sprechen von „Vergebung“ und „Rückgewinnung eines Ausnahmeschauspielers“, andere empfinden es als eine Provokation zur Unzeit, zumal Cannes in diesem Jahr bereits mit #MeToo-bedingten Kontroversen ringt – unter anderem wegen des Ausschlusses eines Schauspielers vom roten Teppich, gegen den Vergewaltigungsvorwürfe im Raum stehen. Dépardieus Verurteilung zu anderthalb Jahren auf Bewährung hatte den Eröffnungstag überschattet.
International halten Spacey vor allem die Italiener für Treue. So bekam er im vergangenen Jahr im sizilianischen Taormina einen Staatspreis für sein Lebenswerk. In seinem letzten Projekt, dem ebenfalls in Italien produzierten Thriller „The Contract“, den kaum jemand gesehen hat, spielt Spacey übrigens den Teufel.
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