Es gibt etwas, das Kriminologen (nun gut, vielleicht nicht alle) und Rassisten (auf jeden Fall alle) gemein haben: Sie teilen den feuchten Traum vom Verbrecher-Gen. Hat man’s, wird man früher oder später zum Verbrecher. Hat man’s nicht, kann die Verwandtschaft aufatmen.
Die einen träumen, sollte dieses Verbrecher-Gen tatsächlich dingfest gemacht werden, davon, eine Art genetic profiling praktizieren zu können und erblich quasi fürs Böse prädestinierte Menschen durch präventive Beobachtung unter Kontrolle zu bringen. Die andern spekulieren darauf, dass so ein Verbrecher-Gen, wäre es gefunden, nur oder zumindest überwiegend im Erbgut bestimmter Bevölkerungsgruppen vorkäme.
Das ist natürlich blödsinnig. Es gibt keine erblich bedingte Begabung für das Böse. Was unter anderem auch daran liegt, dass das Böse keine wissenschaftliche, sondern eine moralische, geradezu religiöse Kategorie ist. Jeder kann – ganz unabhängig von seiner Herkunft – zum Mörder, mindestens zum Totschläger werden.
Das alles zu beweisen, hätte es den neuen Rostocker „Polizeiruf“ nicht gebraucht. „Böse geboren“ heißt er. Das ist aber schon das Plakativste, zu dem sich Regisseur Alexander Dierbach und die beiden Autorinnen Catharina Junk und Elke Schuch hinreißen lassen. Der siebte Fall für das Duo Melly Böwe (Lina Beckmann) und Katrin König (Anneke Kim Sarnau) schillert vor Zwischentönen wie ein Ölfilm auf einer Pfütze am Morgen und ist ein Meisterstück der schwebenden Ambivalenz.
Sohn eines Mörders
Diese Ambivalenz hat sogar ein Gesicht. Es gehört Jördis Triebel – kaum jemand kann wie sie die Abgründe einer Figur, die Zwiespälte, die Hin-und-Hergerissenheit mit einem Nichts an Mimik derart sichtbar machen. Jördis Triebel ist Eva Greuner, die mit ihrem Sohn Milan am Rand des Waldes im Nirgendwo vor Rostock eine Fischräucherei betreibt. Es ist kalt. Der Winter will nicht gehen aus dem Wald und den Seelen derjenigen, die sich zu ihm geflüchtet haben.
Sohn Milan ist ein Sonderling, verschwiegen, verstockt, versponnen in finstere Träume, die er nachtschwarze Zeichnungen werden lässt, in denen es vor grausamen Baummenschen nur so wimmelt. Mit dem Gewehr zieht er durchs Gehölz, einen Sack über der Schulter.
So zeigt ihn uns Ian Blumers wunderbare Handkamera, die uns ständig auf Augenhöhe mit den Menschen hält, die durch diesen Film irren. Macht uns, weil Blumers Kamera gleich nach den tödlichen Schüssen auf zwei Tierschützerinnen im Wald auf ihn schwenkt, subtil zum Komplizen all jener, die in Milan den geradezu naturgegebenen Verdächtigen sehen. (Um wenigstens ein bisschen zu spoilern und Skeptikern das unbedingt empfohlene Weiterschauen über die ersten fünf Minuten hinaus zu erleichtern: Es geht in „Böse geboren“ nicht um Aktivismus; und um das sonst im Sonntagabendkrimi gern genommene Jägerbashing geht es auch nicht.)
Denn Milan, das weiß jeder in diesem seltsamen Rostocker Reservat am Wald, ist der Sohn eines Serienmörders und Frucht einer Vergewaltigung. Und die eine Geschichte von „Böse geboren“ erzählt davon, was das bedeutet. Was das verändert. Wie schon der Verdacht, Milan könne irgendwann vielleicht gar nicht anders, als zu werden wie sein Vater, seine Umgebung beeinflusst. Die Blicke, die Gefühle der Mutter für ihr Kind, die Angst, die Milan auslöst und die ihn umhüllt wie eine Aura. Nichts bleibt unbeobachtet, ungedeutet, keine noch so kleine Geste. Alle sitzen in einem Gefängnis, in das sie gesperrt wurden durch die Gewalt eines Mannes.
Zwei Frauen, ein Trauma
Milans Mutter hat ein Spiegelbild in diesem Kriminalfilm: Melly Böwe, Kommissarin seit ihr Stiefbruder Sascha Buckow irgendwann vor irgendwas nach irgendwo in Putins Reich geflüchtet ist. Lina Beckmann ist Melly Böwe. Und eigentlich ist sie eine Bühnengewalt. Sie haut einen um mit ihrer Körperlichkeit auf dem Theater. In Rostock gab sie bisher das sonnige Gemüt, das es an die graue Ostsee verschlagen hat, die ein bisschen tutige, freundliche Empathin, die nur gelegentlich und mit sanfter Gewalt ihre Krallen gerade gegen männliche Kollegen ausfuhr.
In „Böse geboren“ öffnet sich nun die Tür sperrangelweit in Mellys traumatisiertes Inneres, in dem sie so gefangen ist wie in dem eigentlich viel zu kleinen Auto, mit dem sie ständig unterwegs ist. Aus den beinahe gleichen Gründen gefangen wie Eva. Mellys Milan heißt Rose. Die ist ihre Tochter und steht auf einmal vor der Tür, will wissen, wer ihr Vater ist und warum sie so ist, wie sie ist. So aggressiv, so gewaltbereit.
Dramaturgisch klug, atmosphärisch dicht und also untypisch für die sonst selten überzeugenden privaten Seitengeschichten von Kommissaren in Sonntagabendkrimis, korrespondieren die beiden Erzählungen hier klug miteinander. Spiegeln sich, führen immer tiefer hinein in das eigentliche Minenfeld, in dem Melly, Eva, ihre Kinder und ihre Umgebung gezwungen sind, sich zu bewegen. Das hat – wissenschaftlich gesprochen – nichts mit Vererbungslehre zu tun, sondern mit Traumafolgenforschung.
Damit, welche Folgen eine Gewalterfahrung hat, wie Gewalt weitergegeben wird, eine Atmosphäre schafft, aus der es kaum ein Entrinnen gibt. Zumindest wenn man, wie Melly und Eva – die helle und die dunkle Seite des Traumas – meint, das allein mit sich ausmachen und durch Flucht irgendwo hin zu lösen zu können. Sei es weit weg von daheim. Sei es an den Rand eines Waldes.
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