Hallstatt ist ziemlich schön. Was vielleicht unter anderem daran liegt, dass Hallstatt gleich zweimal schön ist. Hallstatt – in der wirklichen Wirklichkeit Musterbeispiel für Übertourismus – kuschelt sich nämlich nicht nur seit Jahrhunderten im österreichischen Salzkammergut an die Berge (Dachstein, Rettenstein, Krippenstein) und den Hallstätter See. Es ist auch seit einem Dutzend Jahren – als Talmi-Dorf nachgebaut im zentralchinesischen Pearl River Delta (kaum Berge) – eines der meistbesuchten Touristenattraktionen Asiens.

Das wird sich möglicherweise (oder vielleicht gerade nicht) ändern, sollte „Ballerina“ ein Welterfolg werden. Was nicht ganz ausgeschlossen ist, weil „Ballerina“ Teil eines Geschichten-Universums ist, das im Kino seit anderthalb Jahrzehnten mehr als eine Milliarde Dollar umgesetzt hat.

„Ballerina“ ist eine Geschichte „From the World of John Wick“. Und wenn man das Kino verlässt – „Ballerina“ hat alles getan, die für Actionthriller maßgebliche Altersbeschränkung FSK18 zu erreichen – erwartet man in beiden Hallstatt eigentlich nur das Schlimmste. Kugelhagel, missbrauchte Restaurantutensilien, Flammenwerfer, durchgeknallte Dorfbewohner – aber immerhin weiß man, was man mit Schlittschuhkufen alles Blutiges anrichten kann.

Vielleicht sollten wir an dieser Stelle das Phänomen John Wick kurz erklären. Keanu Reeves ist John Wick. Ein mystischer Auftragskiller mit einem mystischen Musclecar (ein 1969er Ford Mustang Boss 429 genauer gesagt), so ging das vor einem Jahrzehnt los, der sich eigentlich zur Ruhe gesetzt hatte, weil seine Liebste tot ist. Für Auftragskiller ist das natürlich keine artgerechte Haltung. Dann wird sein Auto geklaut und sein Hund ermordet (bis heute wissen wir nicht, was schlimmer ist). Und mit dem Ruhestand des John Wick ist es vorbei.

Bisher vier Filme lang geht es in einer unglaublich blutigen, ästhetisch fabelhaften und feingeschnittenen Finsterwelt um ein Killerhotel namens „Continental“, um Assassinen und sektenartige Mord-und-Totschlag-Stämme wie die „Ruska Roma“, um Rache vor allem und ihre Folgen. Blut wird hektoliterweise vergossen. Leichen stapeln sich am Weg von John Wick wie Baumstämme im Wald über Hallstatt.

John Wick wurde, was man im cineastischen Seriengeschäft spätestens seit „Star Wars“ nach dem Vorbild von Burgerbratküchen und Pizzabuden Franchise nennt. Ein sich selbst fortschreibendes Universum von Geschichten zur höheren Ehre des ökonomischen Erfolgs. Von der Wick-Geschichte gibt es inzwischen eine Miniserie namens „The Continental“, die sich – als Prequel – um Wicks Hotel kümmert und die Vorgeschichte der Welt des John Wick. Eine Animationsserie gibt es. Der fünfte Wick-Teil wird gerade gedreht.

Midquel, Interquel

„Ballerina“ ist sozusagen eine Seitenwucherung dieses Universums. Midquel oder Interquel nennt man das. Die Geschichte der Eve Maccaro und die Tanzmörderausbildung, der sie sich in der Pariser Spitzentanzkillerschule der Ruska Roma unterzieht, sortiert sich chronologisch in die Mitte des dritten Teils der Wick-Kosmologie. Und soll– bei Erfolg an den Kinokassen – natürlich pilzartig fortwuchern. Im dritten Wick sah man schon Spitzentänzer, hörte Tschaikowskis „Schwanensee“. Und Anjelica Huston gab eine Ballettschulchefin, gegen die Deniz Volpi, der gerade von vielen angefeindete Hamburger Chefchoreograf, ein falber Waisenknabe ist.

Die Geschichte von „Ballerina“ ist – wie alle Wick-Geschichten, weil es um Geschichten bei Wick ähnlich wenig geht wie bei Pornofilmen – schnell erzählt. Eve Maccaro (Ana de Armas) muss als Kind mitansehen, wie ihr Vater eines Nachts in einer idyllischen Villa an einem idyllischen See in Europa, ermordet wird.

Von ausgerechnet jener Assassinen-Familie, aus der sie stammt und aus deren toxischem Dunstkreis ihr Vater Eve eigentlich hatte befreien wollen. Eve kommt in Anjelica Hustons Kampfmaschinen-Ballettschule unter. Sie hat eine Agenda. Sie will die Wahrheit („Lux in Tenebris“ lässt sie sich auf ihren Rücken tätowieren). Sie will – weil wir hier ja bei John Wick sind – Rache. Sie will die Mörder ihres Vaters finden und töten. Einem Kreuzweg mit mindestens einem Dutzend Kampfstationen gleich, geht’s dem Finale in Hallstatt zu. Weil Hallstatt die Heimstatt jenes Stammes von Gewaltbereiten ist, aus dem Eve einstmals gerettet werden sollte.

Dämonologie der Dinge

Unterwegs beweist Len Wisemans Hochgeschwindigkeitsmassaker einmal mehr, wie fatal es wäre, würden Hollywood-Filme nach der Trumpschen Doktrin nur noch in Amerika gefilmt werden. Prag zum Beispiel oder das schöne Mähren sehen so derart wahnsinnig düster, elegant und mysteriös aus, dass man ihnen beinahe alles zutraut (was tschechischen Tourismusbeauftragten und Airbnb-Vermietern vielleicht nicht gefallen würde).

Auch die Dämonologie der Dinge führt „Ballerina“ fort. Wahrscheinlich wird man am Ende des Wick-Kosmos in vermutlich vierzig Jahren kein einziges Ding des Alltags mehr anschauen können, ohne gleich zu wissen, wie man mit ihm Menschen unter hohem Blutverlust zu Tode bringen kann. Mit notorisch unfreundlichen Berliner Gastromitarbeitern allerdings macht man seinen Frieden, sie sind nicht das Schlimmste, was einem an Personal in einem Restaurant begegnen kann.

„Ballerina“ müht sich fast verzweifelt um philosophische Gemetzelvertiefung (es geht um Familie und freien Willen, Licht in der Dunkelheit und slawische Mythen). Und ist lustig, wenn man auf Blutnebel und Knochenbrechereien und absurde Todesarten steht. Ana de Armas, das ehemalige Bondgirl, besteht derart überzeugend alle physischen Herausforderungen des Stahlbads, in das sie geworfen wird, dass einem das dramaturgisch fadenscheinig in den Plot geflanschte Auftreten von Keanu Reeves doch ziemlich auf die Nerven geht.

Was man allerdings wirklich vermisst, ist ein Leichenzähler. Den gab es mal in einer Folge des „Nackte Kanone“-Franchises. „Bloodiest Film Ever“ blinkte es da relativ rasch auf der Leinwand. Bei „Ballerina“ müsste es auf jeden Fall schneller blinken. Am Ende dürften – wir sind mit Zählen irgendwann nicht mehr mitgekommen –ungefähr so viele Leichen herumliegen, wie Hallstatt Einwohner hat. Das waren im Januar 2024 exakt 741.

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