Nicole (Name anonymisiert) wurde mitten auf der Strasse angegriffen – auf dem Heimweg nach einem Geschäftsanlass. Es war September, kurz vor zehn Uhr abends. Nicole war fast daheim.
«Ich bin dann zurückgelaufen zu der Haustür und habe gesehen, dass mir ein Mann entgegenkommt. Er hatte eine Kapuze, er ging an mir vorbei, ich ging zu unserer Haustüre, dann stand er plötzlich hinter mir. Mit seiner Hand zwischen meinen Beinen. Es kam völlig unerwartet.»
Nicole begann zu schreien, der Mann flüchtete. Doch sie zögerte, die Polizei zu rufen. Zu sehr war sie verunsichert, ob das überhaupt als Anzeige reicht. Denn eine Vergewaltigung war es ja nicht.
Nicoles Geschichte ist nicht die Norm. Die meisten Übergriffe passieren im engen Umfeld. Der Täter ist bekannt. Doch ob bekannt oder unbekannt: Die Hürde, Hilfe zu holen, ist hoch.
Wo beginnt ein Übergriff?
Sexualisierte Gewalt ist kein Randproblem, sondern tief in gesellschaftlichen Strukturen verankert. Laut der polizeilichen Kriminalstatistik der Schweiz wurden im Jahr 2024 insgesamt knapp 10'000 Straftaten gegen die sexuelle Integrität erfasst. Dazu zählen unter anderem Vergewaltigungen, sexuelle Übergriffe und sexuelle Belästigung.
Diese Zahlen verdeutlichen die Dringlichkeit, Massnahmen zur Prävention und Unterstützung von Betroffenen zu verstärken. Die Dunkelziffer dürfte zudem erheblich höher sein, da viele Übergriffe nicht zur Anzeige gebracht werden. Nur mit konsequenter Prävention, gesamtgesellschaftlichem Engagement und klaren politischen Massnahmen kann sich wirklich etwas ändern.
Schlechtes Zeugnis für die Schweiz
Tag für Tag passiert körperliche und sexuelle Gewalt in einer Partnerschaft. Alle zwei Wochen stirbt in der Schweiz eine Frau durch die Gewalt eines (Ex-)Partners. Die Behörden wissen Bescheid. Trotzdem greift das System nicht.
Die Schweiz wurde deshalb 2022 vom Europarat gerügt. Der Vorwurf: Sie setzt die Istanbul-Konvention – ein völkerrechtlich verbindlicher Schutzmechanismus gegen Gewalt an Frauen – unzureichend um.
Es wird zwar in der Politik zunehmend über geschlechtsspezifische Gewalt gesprochen und erste Massnahmen wie der Ausbau von Krisenzentren wurden umgesetzt. Doch die Realität zeigt: Die Mittel reichen nicht aus, um die Istanbul-Konvention umfassend zu leben.
Hinzu kommt die föderale Struktur der Schweiz – viele Zuständigkeiten liegen bei den Kantonen. Das führt zu einem gravierenden Missstand: Der Zugang zu Schutz und Unterstützung für Betroffene hängt stark davon ab, in welchem Kanton die Tat geschieht. Eine einheitliche nationale Strategie fehlt bis heute.
Wie andere Länder mit Gewalt gegen Frauen umgehen
Während die Schweiz bei der Umsetzung der Istanbul-Konvention hinterherhinkt, zeigen andere Länder, wie umfassender Schutz für Frauen besser gelingen kann. Spanien gilt dabei als Vorreiter in Europa.
Bereits 2004 verabschiedete das Land ein umfassendes Gesetz zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Das Gesetz umfasst spezialisierte Strafverfolgungsinstanzen, ein landesweites Unterstützungsnetz für Betroffene sowie verpflichtende Bildungsprogramme zur Prävention in Schulen. Wichtig ist dabei: Gewalt an Frauen wird als strukturelles Problem verstanden, das gesellschaftliche und rechtliche Antworten erfordert.
Seit der Einführung des Gesetzes ist die Zahl der Frauenmorde in Spanien insgesamt leicht zurückgegangen – auch wenn die Gewalt damit nicht verschwunden ist, wird sie ernster genommen und systematischer bekämpft als in vielen anderen europäischen Ländern.
Auch Schweden verfolgt einen konsequenten Ansatz. Das dortige Strafrecht basiert auf dem Prinzip der ausdrücklichen Zustimmung («Nur Ja heisst Ja»). Damit wurde ein Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung vollzogen: Es geht nicht mehr darum, ob sich ein Opfer genügend gewehrt hat – sondern ob die Handlung einvernehmlich war.
Diese Gesetzesänderung führte in Schweden zu einem deutlichen Anstieg von Anzeigen und Verurteilungen bei Sexualdelikten.
Institutionelles Versagen
Viele Frauen erleben ein zweites Trauma, wenn sie versuchen, Hilfe zu holen. Anzeigen werden nicht ernst genommen, Verfahren eingestellt, Täter freigesprochen. Wer sich doch überwinden kann, landet nicht selten in einem System, das retraumatisiert statt schützt.
Die geringe Verurteilungsquote bei Sexualdelikten ist ein Signal – nicht an die Täter, sondern an die Opfer: Es lohnt sich nicht, zu kämpfen.
Die leisen Folgen eines Übergriffs
Viele Betroffene versuchen, nach einem Übergriff einfach weiterzuleben. Als wäre nichts gewesen. Doch meist geht das nicht. Immer öfter überkommt Betroffene die Angst, wenn sie alleine sind.
So auch Nicole: «Ich bekam Panikattacken. Einmal war ich mit den Kindern auf einem schmalen Weg unterwegs, hinter uns kam ein Putzmann – am liebsten wäre ich davongerannt. Immer häufiger merkte ich, dass ich Orte wie Tiefgaragen oder Keller mied, wenn ich nicht wusste, was mich dort erwartete. Nach und nach begann ich, mich zu isolieren.»
Ein Jahr lang kämpfte sie, bis sie sich eingestand: Ich brauche Hilfe.
Nicole wandte sich an die Opferhilfe, begann eine Therapie und besuchte einen Wen-Do-Kurs – eine Form der feministischen Selbstverteidigung. Und dort, sagt sie, sei zum ersten Mal etwas passiert, das sie stark machte: Sie hat sich selbst wieder ernst genommen.
Viele Frauen, die körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt haben, glauben, sie sind alleine, dass sie übertreiben, dass Schweigen besser ist. Aber Schweigen schützt nur den Täter.
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