Mit "From the World of John Wick: Ballerina" öffnet das "John Wick"-Franchise ein neues Kapitel: Im Mittelpunkt steht diesmal nicht Keanu Reeves als stoischer Profikiller, sondern Ana de Armas als Eve, eine junge Auftragsmörderin, die nach dem Mord an ihrer Familie auf Rache sinnt - und dabei gnadenlos gegen die Regeln der Unterwelt verstößt. Der Film spielt im selben düsteren Universum wie die Hauptreihe, ist jedoch mehr als nur ein Spin-off: "Ballerina" verbindet die eiskalte Präzision der "John Wick"-Action mit überraschend emotionalen Zwischentönen - und einer ungewöhnlichen Hauptfigur.
Im Gespräch mit Regisseur Len Wiseman, der mit der "Underworld"-Reihe bereits für legendäre Actionfilme verantwortlich ist, und Hauptdarstellerin Ana de Armas (auch bekannt aus "Knives Out" und "James Bond - Keine Zeit zu sterben") wird deutlich, wie viel Eigenständigkeit der Film trotz seiner Franchise-Zugehörigkeit besitzt. Gegenüber ntv.de erklären die beiden ihre persönlichen Ansprüche an eine glaubwürdige Actionheldin und warum "Ballerina" keine "weibliche Version von John Wick", sondern eine ganz eigene Geschichte ist.
ntv.de: Herzlichen Glückwunsch zu "Ballerina" - ein wirklich sehr gelungener Film. Bei Spin-offs "in der Welt von ..." ist man ja oft etwas skeptisch.
Len Wiseman: Das ist die beste Art von Reaktion! Ich liebe es, wenn die skeptischen Fans es genießen. Ich bin genauso. Wenn ich nicht selbst Regie führe, bin ich bei Franchises und Dingen, die ich liebe, ebenfalls skeptisch. Also ist es großartig, wenn man diejenigen überzeugt, die sich vorher gedacht haben: Ich bin mir nicht sicher, ob das gut wird ...
Kannst du beschreiben, wie du deinen eigenen Stil in dieses Franchise gebracht hast?
Wiseman: Ehrlich gesagt ist das kein bewusster Prozess. Ich überlege mir nicht konkret: Wie bringe ich meinen Stil ein? Mein Stil ergibt sich einfach aus dem, was mich inspiriert. Bei "Underworld" war es genauso - da habe ich nicht gesagt: Ich will meinen Stil einbringen, sondern ich folge einfach meiner eigenen Bildsprache, meiner Art zu erzählen, meinem Umgang mit Licht - all den Dingen, die mich visuell und emotional ansprechen. "Underworld" sieht ganz anders aus als "Ballerina". Aber das ergibt sich natürlich. Und genau daraus entsteht dann am Ende das, was man vielleicht meinen Stil nennen würde.
Wie hast du versucht, die Qualität der "John Wick"-Filme beizubehalten oder sogar noch zu toppen?
Wiseman: Eines der Dinge, die mir wirklich wichtig waren, war der Ton. Die "John Wick"-Filme haben eine ganz besondere Stimmung, die ich sehr mag - und ich wollte unbedingt, dass diese erhalten bleibt. Neben dem Ton ist natürlich auch die Action entscheidend. Meiner Meinung nach ist sie in "John Wick" auf einem absolut hohen Niveau, also war es mir sehr wichtig, diesem Standard mit voller Konzentration, Respekt und Zeit gerecht zu werden. Ich liebe Actionfilme, und in den letzten Jahren gab es unglaublich viele beeindruckende Szenen und Sequenzen - viele davon von "John Wick" inspiriert. Und immer, wenn jemand etwas anders oder neu macht, finde ich das spannend. Wir haben schon viele klassische Action-Muster gesehen, die sehr gut umgesetzt wurden. Ich versuche daher immer, etwas zu finden, das man so noch nicht gesehen hat - oder einem bekannten Muster einen frischen Dreh zu geben. Das ist mein Hobby. Ich liebe es einfach.
Es war so erfrischend, eine weibliche Protagonistin in einem sonst so männlich dominierten Genre zu sehen! Vor allem in Sachen Gewalt steht "Ballerina" den "John Wick"-Filmen in nichts nach.
Ana de Armas: Eines der ersten Dinge, die ich Len klargemacht habe, war: Ich liebe das Projekt, ich sehe das Potenzial in der Geschichte und ich will es wirklich machen - aber nur, wenn ich es richtig machen darf. Ich wollte nicht nur die "weibliche Version von John Wick", sondern auf Augenhöhe sein und alles geben dürfen. Ich habe ihm gesagt: "Behandelt mich dabei bitte nicht anders, nur weil ich eine Frau bin." (lacht) Zum Glück waren wir da alle auf derselben Wellenlänge. Allen war klar: Das hier ist keine Kopie, sondern eine eigenständige Figur in dieser Welt. Wir wollten herausfinden, was sie in dieser Welt ausmacht, wie sie agiert, wer sie ist. Sie sollte stark sein - aber auf ihre eigene Art. Das war mir extrem wichtig.
Aber gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Protagonisten?
De Armas: Ich denke, die Gemeinsamkeit liegt in diesem inneren Feuer und dem Bedürfnis nach Rache oder Gerechtigkeit. Das definiert die Charaktere. Es gibt diesen schönen Satz im Film: "Kämpfe wie ein Mädchen", der oft abwertend gegenüber Frauen verwendet wird. Ich wollte ihn umdrehen und ihm etwas Mächtiges verleihen, um ihn als Antrieb für den Charakter zu nutzen, damit Eve herausfindet, wer sie ist. Es ging darum, ihre Stärken zu finden und zu zeigen, wie Frauen - unabhängig von ihrer Größe - im Vergleich zu Männern, enorme Vorteile haben können. Frauen können so viel mehr erreichen und Dinge tun, die Männer nicht können. Ich wollte damit spielen, Spaß haben und auf meine eigene Weise stark sein.
Der Kontrast zwischen Eve, der Ballerina - süß und feminin - und Eve, der Killerin - brutal und unverfroren - ist sehr stark. War es euch wichtig, beide Seiten des Charakters zu zeigen?
De Armas: Ich liebe die Idee, dass sich diese beiden Welten in Eve spiegeln und miteinander verschmelzen. Das war wirklich clever und hat mich sofort überzeugt. Eine der faszinierenden Ideen in der Geschichte ist, dass die (Unterwelt-Verbrecherorganisation, Anm.d.Red.) Ruska Roma Ballett unterrichtet. Ballett wirkt auf den ersten Blick wie etwas Schönes, Elegantes und Anmutiges - aber was man oft vergisst, ist, wie viel Schmerz, Disziplin und Durchhaltevermögen dahintersteckt. Als ich das verstanden habe, war mir sofort klar: Ja, natürlich würden sie Auftragskiller in Ballett ausbilden! Es geht nicht nur um Körperbeherrschung, sondern auch um Körperbewusstsein, Präzision, Choreografie - und genau das braucht man auch im Kampf. Kämpfen ist im Grunde wie ein Tanz. Und wenn man sich vorstellt, dass auch John Wick durch diese Ausbildungsschule gegangen ist, dann ergibt das alles plötzlich ein stimmiges Gesamtbild.
In "Ballerina" sehen die Kampfszenen weniger choreographiert aus als in "John Wick", sondern emotionaler und roher. Was das Absicht?
Wiseman: Ja, das war ganz bewusst so gestaltet. Wir wollten auf keinen Fall das wiederholen, was "John Wick" gemacht hat - das wäre ein Fehler gewesen, und wir hatten auch keinerlei Interesse daran. Stattdessen wollten wir Eve eine ganz eigene Sprache, einen eigenen Stil und ein eigenes Gefühl für die Action geben. Man könnte sagen, ihre Kämpfe sind mehr von einem Überlebensinstinkt geprägt als von einem gezielten Angriff. Oft wird sie überrascht, aus dem Hinterhalt angegriffen - es geht weniger darum, den perfekten Kampf zu gewinnen, sondern darum, überhaupt lebend daraus hervorzugehen, während sie auf ihrem Weg trotzdem ihre Ziele ausschaltet. Die Action hat deshalb einen roheren, instinktiveren Charakter.
De Armas: Ich wollte nicht unbesiegbar oder tough wirken, denn das ist nicht realistisch. Die Leute würden das nicht glauben. Ich bin nun mal klein, und diese Männer sind doppelt so groß. Jeder Schlag, jeder Tritt - alles tut weh. Das Publikum soll spüren, wie überwältigt Eve ist. Es ist kein Job, sie hat keinen Vertrag unterschrieben. Es ist persönlich, und wenn Emotionen ins Spiel kommen, spielt es keine Rolle, wie gut man vorbereitet oder wie geschickt man ist. Wir wollten zeigen, dass sie erschöpft ist, weil sie nicht weiß, was sie erwartet.
Wie würdest du Eves Entwicklung beschreiben?
De Armas: Sie lernt und wird zu der Person, die sie sein soll. Alles ist eine Überraschung, alles ist zu viel. Die Zuschauer sollen das fühlen - dass es sie umbringen könnte, weil sie nicht vorbereitet ist. Was sie stark macht, ist nicht, wie gut sie ist, sondern dass sie immer weiterkämpft, weil es aus ihrem Herzen kommt. Ihre Mission beginnt mit Rache und dem inneren Zorn, aber sie verwandelt sich in Schutz und das Verständnis, dass es etwas Größeres gibt - die Chance, jemandem zu helfen, die sie selbst nicht hatte. Diese Entwicklung ist wunderschön und macht die Geschichte besonders.
Seht ihr Eve als ein Opfer ihrer Welt oder als jemanden, der den Weg der Gewalt freiwillig geht?
De Armas: Oh, ich sehe sie überhaupt nicht als Opfer! Es war definitiv ihre Entscheidung, auch wenn sie aus einer verletzlichen, schwierigen Ausgangssituation kommt.
Stimmt, darüber, als Kind Teil der Ruska Roma zu werden, hatte sie keine Kontrolle ...
De Armas: (überlegt) Als Kind hat jemand anderes die Entscheidungen für sie getroffen. Aber was wäre die Alternative gewesen? Ich glaube nicht, dass sie eine andere Wahl hatte. Als Erwachsene erkennt Eve, dass es sehr wohl ihre Entscheidung ist. Sie wird aufgefordert, ihre Vergangenheit zu vergessen, doch das geht nicht. Das Vergangene ist in ihr. Sie muss verstehen, woher sie kommt, denn alles aus unserer Vergangenheit formt uns und zeigt uns, wohin wir gehen sollen. Wenn man das nicht weiß - besonders wenn man als Kind Zeuge einer so tragischen Sache wird - ist es wichtig, Antworten zu bekommen. Das steht in direktem Zusammenhang mit diesem Skript: Es geht darum, dass man mehr über die eigene Vergangenheit und das eigene Leben erfahren möchte. Eve möchte die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen, und das ist ihre Entscheidung.
Wiseman: Das ist eine interessante Frage - genau darum geht es im Film: Schicksal versus freier Wille. Ich finde das Thema faszinierend. Wenn man zum Beispiel jemanden fragt, der in einer Beziehung ist, ob es Schicksal war, dass man sich kennengelernt hat, dann klingt das sehr romantisch. Viele würden sagen: "Ja, es war Schicksal." Aber wenn man das weiterdenkt und fragt, ob das gesamte Leben vorbestimmt ist - also ob die eigenen Entscheidungen eigentlich keine Rolle spielen, weil alles bereits festgelegt ist -, dann wirkt das schnell einschränkend. Die meisten Menschen würden dann eher sagen: "Nein, ich treffe meine Entscheidungen selbst, ich bestimme mein Leben." Und genau darin liegt der Konflikt, den ich so spannend finde. Ich persönlich neige eher zur Ansicht, dass wir freien Willen haben und dass unsere Entscheidungen nicht vorgegeben sind. Aber ich liebe die Diskussion darüber und finde das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Sichtweisen unglaublich interessant.
Ist Eves Gewalt also eine Art befreiender Akt, ein Ausdruck unterdrückter Emotionen? Oder ist sie einfach nur ein Werkzeug in dieser düsteren Welt?
Wiseman: Die Gewalt steht im Zentrum dessen, was Eve im Leben widerfahren ist. Die Wut, die sich in den Actionszenen zeigt, ist ein direktes Ergebnis ihrer Vergangenheit. Wir wollten gezielt eine emotional aufgeladene Form von Action zeigen. Wenn wir unseren Job richtig gemacht haben, dann spürt man das in den einzelnen Szenen. (lacht) Zum Beispiel in der Restaurant-Szene: Da geht es mehr um den Überraschungsmoment - die vermeintlich harmlosen Leute entpuppen sich plötzlich als Auftragskiller. Diese Szene hat eher einen verspielten Ton. Später, in der Hütte mit Lena, ist die Stimmung ganz anders. Die Action dort ist emotional aufgeladen, weil es um eine persönliche Enthüllung geht. Da ist kein Platz für Spaß - es geht um echtes, inneres Erleben. Genau das war uns wichtig: Die Emotion, die eine bestimmte Szene antreibt, soll in der Action spürbar sein.
Ana, hattest du künstlerische Freiheiten bei der Ausgestaltung deiner Rolle?
De Armas: Absolut! Die Zusammenarbeit mit Len ist wirklich unkompliziert. Er ist immer offen für Ideen, liebt die Zusammenarbeit und bringt viel Spaß mit. Es gab eine Trainingsphase von drei bis vier Monaten vor den Dreharbeiten, in der Len nicht viel da war, da er mit der Pre-Produktion beschäftigt war. Diese Zeit hat mir jedoch ermöglicht, durch die physische Komponente der Action herauszufinden, wer mein Charakter ist. Am Set haben wir die Rolle dann weiter ausgestaltet. Es war eine großartige Kombination aus seinen und meinen Ideen und dem, wie ich den Charakter sah und was für sie wichtig war. Wir hatten immer ähnliche Gedanken und waren auf der gleichen Wellenlänge.
Wie viel Einfluss hatte ("John Wick"-Regisseur und Stuntman, Anm.d.Red.) Chad Stahelski bei der Entwicklung der Actionszenen und wo habt ihr euch bewusst abgegrenzt?
Wiseman: Mit Chad gab es schon in der Vorbereitungsphase Gespräche über den generellen Ton und Ansatz des Films. Er war dabei sehr offen - so in der Art: "Das ist dein Film, mach ihn zu deinem eigenen." Das war sehr hilfreich. Was die Actionszenen betrifft, haben wir viel mit "87Eleven" zusammengearbeitet - dem Stuntteam, das Chad mitgegründet hat. Das ist eine sehr kreative Gruppe, die sich immer fragt: Was ist die cleverste Idee? Was funktioniert am besten? Ein Beispiel: Bei einer Szene kamen wir auf die Idee, Schlittschuhe wie Boxhandschuhe einzusetzen. Das haben wir an das Team bei "87Eleven" übergeben und gefragt: Was können wir damit machen? Daraufhin entwickeln sie 20 verschiedene Moves und Ideen, aus denen wieder neue Impulse entstanden sind.
Kamen sie deinen Vorstellungen nah?
Wiseman: Ich hatte mir die Schlittschuhe als richtig fiese, rasiermesserscharfe Boxhandschuhe vorgestellt. Und sie kamen mit dem Vorschlag, dass Eve sie an den Schnürsenkeln halten und wie eine Keule herumschwingen könnte. Es ist ein sehr kreativer, kollaborativer Prozess. Im Grunde zählt immer: Die beste Idee gewinnt.
Die Flammenwerfer waren auch ein sehr schönes Schmankerl - so oldschool!
Wiseman: Genau! Auch hier haben wir eine klassische, altmodische Waffe genommen und neu gedacht. Ich frage mich immer: Was ist eine interessante, neue Idee? Und ich hatte noch nie einen Flammenwerfer-Kampf gegen einen anderen Flammenwerfer gesehen - wie ein klassisches Schussduell, nur eben mit Feuer. Wenn du keine Referenz dafür findest, ist das ein gutes Zeichen. Dann entsteht etwas, das es so im Kino noch nicht gegeben hat - eine Sequenz, die neu und einzigartig ist.
Können Fans mit einem zweiten Teil rechnen, in dem Eve sich die Ruska Roma vorknöpft?
Wiseman: Im Moment liegt der Fokus ganz klar auf diesem ersten Film. Aber ich würde es lieben, das war von Anfang an eine Hoffnung. Es gibt so viele Ideen! Wenn man einen ersten Film macht, denkt man automatisch auch an verschiedene Verzweigungen der Geschichte. Man muss sich überlegen: Woher kommt die Figur? Was würde als Nächstes passieren? Wenn man sich wirklich mit einer Figur beschäftigt, denkt man nicht nur an das Jetzt, sondern auch daran, was davor war - und was die Konsequenzen ihres Handelns in der Zukunft sein könnten. Es gibt also unheimlich viele Möglichkeiten, was wir noch erzählen könnten.
Mit Ana de Armas und Len Wiseman sprach Linn Penkert
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