Metamorphose – Verwandlung. Eigentlich ist das der Beginn jeder Oper. Der Mensch kann nicht mehr sprechen, also muss er singen. Er verwandelt sich in ein höheres Ich. Nicht unbedingt ein besseres. Von ihren Emotionen überwältigte Charaktere des Musiktheaters barmen, bitten, schluchzen und jauchzen, töten, betrügen, lieben – so wie wir im opernlosen Leben auch.
Und doch, die Oper hebt solches automatisch ins Größere, Transzendente. Und hier setzt jetzt das kluge wie wunderschön visualisierte, trotz vier Stunden Aufführungsdauer nie langatmige Barockopernexperiment „Hotel Metamorphosis“ von Regisseur Barrie Kosky und seinem Dramaturgen Olaf A. Schmitt bei den 14. von Mezzostar Cecilia Bartoli verantworteten Salzburger Pfingstfestspielen im Haus für Mozart an. Die sind diesmal der Serenissima Venedig thematisch gewidmet, und deshalb erklingt beinahe nur Musik Antonio Vivaldis.
Das komplett neuentworfene Konstrukt funktioniert auf gleich drei Ebenen fast perfekt. Da gibt es einerseits die Metapher des Hotelzimmers, hier wohl Vier-Sterne-Niveau. Der genau beobachtende Bühnenbildner Michael Levine hat es in aseptischer Minimalismus-Coolness als immer wieder von raffinierten Videoproduktionen überfluteter Einheitsraum entworfen. Ein Ort des Kommens und Gehens um ein naturgemäß zentrales Doppelbett, anonym, austauschbar; wie das Videogemälde darüber, das passend zu den fünf hier erzählten Geschichten dauernd sein Thema wechselt.
Der Prolog und zwei Akte speisen sich aus der abendländischen Inkunabel der „Metamorphosen“ des Ovid. Barrie Kosky nennt sie ein „Kochbuch der Kunstgeschichte“, bei dem sich Maler, Musiker, Literaten, Cineasten seit Jahrtausenden lang bedient haben. Denn das Ich wird hier ein anderes, Verwandlung dient zum Schutz oder zur Strafe wie Sühne.
Und die Geschichte vom Sänger Orpheus, der die über 400-jährige Geschichte der Oper einleitete und der bei Ovid auch als einer der Erzähler fungiert, rahmt als Prolog und fatales Finale auch die anderen vier Vorkommnisse – oder sind es Buchungsaufenthalte? Die erzählen vom sich aus einer Statue ein lebendes Fräuleinbild erschaffenden Pygmalion; der Minerva durch ihren Stolz verärgernden und deshalb in eine Spinne verwandelten Teppichweberin Arachne; von Myrrha, die sich von ihrem unwissenden Vater schwängern lässt und büßend zur Myrre wird; sowie von Echo und Narcissus, dem in sein Spiegelbild verliebten Jüngling, der die sich nach ihm verzehrende Nymphe so wenig beachtet, dass sie zum bloß Worte wiederholenden Lufthauch mutiert.
Musiktheater wird das schließlich durch 40, so variantenreich wie überraschungsvoll montierte Arien wie Instrumentalstücke Antonio Vivaldis. Denn als Arachne- wie Ariadnefaden werden die Sing- und Klingwerke des „prete rosso“, der als Opernkomponist nicht immer sein bester Dramaturg war, in barocker Pasticcio-Manier zu einem neuen Ganzen fernab jeder Hitparaden-Sterilität versponnen. Das besonders durch die lebendige obligate Begleitung diverser Soloinstrumente wie Mandoline, Viola d’Amore, Fagott, Oboe oder Salterio (Kastenzither) tönende Extravaganz entwickelt, wie durch die mal galanten, mal grobianischen Zwischenspiele.
Gianluca Capuano am Pult der hier obligatorischen, mit allergrößter Freiheit, Zugewandtheit wie Achtsamkeit aufspielenden Bartoli-Leibgarde Les Musiciens du Prince-Monaco findet für diese gar nicht künstliche Partitur in jedem Moment den idealen Tonfall, das richtige Tempo, die stufenlos fahrbare Dynamik. Und liefert so ein vehementes Plädoyer für Vivaldi nicht als Notenserienfabrikanten, sondern farbenreichen, rhythmisch mitreißenden Innovator und Klangpsychologen.
Und noch eine vierte Inhaltsebene gibt es – dank der sorgfältig sinnhaftigen Besetzung. Denn nur ein Sänger und drei Sängerinnen wechseln hier mehrfach ihre Identitäten, alles hinreißend unterschiedliche Mezzo-Varianten, verteilt auf zwei Generationen. Da sind die beiden reifen Stars, der eminent musikalische, französische Countertenor Philippe Jaroussky und die globale Italo-Marke Cecilia Bartoli, die schon 1999 mit ihrer Vivaldi-CD die Idee der Konzeptalben propagierte. Jetzt gibt sie ihre langjährigen Arien-Visitenkarten, etwa das koloraturglucksende Schiffsuntergangsgleichnis „Agitata da due venti“ aus „La Griselda“, großmütig weiter an die viel lyrischere, heller strahlende Lea Desandre, die es feinsinnig zum Akustikglänzen bringt. Und erdig dunkle, dabei wendige Tiefentöne steuert die immer wieder zum zentralen Trio für Duett und Terzette als Amme, Göttin Minerva wie Juno hinzustoßende Nadezhda Karyazina bei.
Auch ein schauspielerisches Element gibt es. Statt Rezitative steuert die große, alte Angela Winkler als fluider Orpheus im Anzug verbindende wie erklärende Ovid- wie Rilke-Texte bei.
Tänzer und Chor haben einen opulenten Auftritt
Oper als beglückendes Nachdenken über die abendländische Zivilisation, kontemplativ, packend, immer wieder mitreißend durch die Originalität der Ideen wie überraschungsvoll ideal passenden Soundfiles. Einen besonders opulenten Auftritt haben zu Beginn des zweiten Teils Otto Pichlers energetisch stringent choreografierte Tanztruppe und der tolle Projektchor Il Canto d’Orfeo. Denn der bekiffte Narziss verliert sich in einer Sixties-Orgie im Fellini-Satyricon-Look, die auch ein Kleiderfest für den sonst mit seinen Damenroben prunkenden Klaus Bruns ist.
Dann schlägt noch einmal die Bartoli-Stunde: Als schwarzgekleidete Barfußtragödin und über den Mänadenmord an Orpheus verzweifelte Gattin ersingt sie sich todtraurig vor Orfeos abgeschlagenem Haupt ihre berührenden Anna-Magnani-Momente.
Langanhaltende Beifallswogen für die wohl beste, sinnhaftigste, intelligenteste Opernpremiere der Salzburger Bartoli-Ära. Im Sommer steht sie wieder auf dem Programm. Und Barrie Kosky wird auch zu Pfingsten 2026 wieder dabei sein. Dann nämlich soll Cecilias 60. Geburtstag gefeiert werden – mit Rossinis Festopernkantate „Il viaggio a Reims“ als All-Star-Revue.
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