Der Mai war gekommen. Die Bäume schlugen aus. Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus. Sorgen hat man ja genug, aber zu Hause bleiben will man dann lieber doch nicht. Vor allem nicht im wunderschönen Monat Mai, als alle Knospen sprangen. Und so zog es denn auch den Verfasser dieser Zeilen kürzlich wieder nach Paris. Dass er nicht der Einzige sein würde, war ihm klar. Schon immer warnen Pariskundige die Reiselustigen davor, die französische Hauptstadt im Wonnemonat aufzusuchen. Schon immer hält sich keiner daran. Denn die Sehnsucht nach Paris, vor allem wenn es in Deutschland einfach nicht Frühling werden will, die ist eben größer als jede Vernunft.

So klappte denn der Verfasser dieser Zeilen, im Folgenden unumwunden „ich“ genannt, den jüngsten Roman des französischen Nobelpreisträgers Patrick Modiano energisch zu: „Wollen wir doch mal sehen!“ Denn Modiano hatte in „Die Tänzerin“ (Hanser Verlag, 98 Seiten, 20 Euro) dekretiert, die Stadt Paris habe sich so sehr verändert, „dass sie keinerlei Erinnerungen mehr in mir wachrief.“ Es sei für ihn vielmehr „eine fremde Stadt“. Sie gleiche, findet Modiano, der wie kein anderer lebender Franzose die Vergangenheit der Seine-Metropole magisch heraufzubeschwören weiß, „einem großen Vergnügungspark oder dem Duty-free-Bereich eines Flughafens“.

Nanu? Verändert? Ich dachte immer, Paris sei die Stadt des „Noch“! Als solche hat sie jedenfalls vor ziemlich genau hundert Jahren Kurt Tucholsky bezeichnet. Er meinte damit: Es ist alles noch da. Paris noch immer die schönste Stadt der Welt, noch immer die Hauptstadt der Zivilisation, noch immer der Ort, an dem sich die kleinen Dinge verändern, damit die großen bleiben können, wie sie sind. Auch andere Paris-Enthusiasten jener Jahre – Joseph Roth oder Friedrich Sieburg –, die hier als Korrespondenten für deutsche Zeitungen lebten und schrieben, sahen das so.

Unvergessliche Erinnerungen an das Quartier Latin

Und ich nicht minder. Als ich vor 45 Jahren für ein Schuljahr als Lehrer am Pariser Gymnasium Henri IV vom Neckar an die Seine wechselte, wurde da zwar gerade der Film „La Boum“ (Die Fete) gedreht. Aber die Großmutter (Denise Grey) der jungen Hauptdarstellerin Sophie Marceau, die hier das Leben und die Liebe kennenlernt, war schon zu Tucholskys Zeiten ein Star gewesen. Ich habe sie zwar nicht mehr auf der Bühne gesehen. Dafür aber Madeleine Renaud, Edwige Feuillère und Maria Casarès. Sie waren die großen Filmheroinen der 1930er- und 1940er-Jahre gewesen, aber ein halbes Jahrhundert später immer noch die Knüller der Saison, wenn sie irgendwo auftraten. Renaud in „Savannah Bay“ von Marguerite Duras, Feuillère in Anouilhs „Léocadia“ oder Casarès in Chéreaus „Peer Gynt“-Inszenierung: unvergessliche Erinnerungen und mir noch sehr präsent!

Aber zurück zu den kleinen Dingen, die sich in Paris verändern, damit alles bleiben kann, wie es ist: Mit ihnen wurde ich gleich konfrontiert, als ich an der Gare du Nord ankam. Meine von der letzten Reise verbliebenen Metrofahrkarten konnte ich wegschmeißen. Seit dem 13. Mai gilt in den öffentlichen Verkehrsmitteln nur noch die Chipkarte „navigo“. Der alte Zehnerpack („carnet“) ist zwar geblieben, aber in elektronischer Form. So spart man Papier.

Dass Paris mit der Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks Ernst macht, weiß man, seit die Bürgermeisterin Anne Hidalgo viele Hauptverkehrsadern radikal vom Auto befreit hat. Davon profitieren vor allem die Radfahrer, in Berlin die rücksichtslosesten Verkehrsteilnehmer überhaupt. Wie kommt es, dass sie sich in Paris jedoch nicht als Herren der Straße aufführen? Ist das nun Savoir-vivre oder Anfängerverhalten? Hier wird jedenfalls das Fahrrad nicht verklärt. Ein Ureinwohner der Kapitale wird immer eher zu Fuß gehen. Für Abertausende Pendler aus den Vororten der Zwölf-Millionen-Agglomeration kommt der Drahtesel ohnehin nicht infrage. Sie nehmen natürlich die Metro.

Auch die „möblierten“ Fußgängerzonen in Paris haben ihren deutschen Pendants einiges voraus. Zwischen meiner alten Schule und dem Panthéon, wo früher Reisebusse den Weg versperrten, stehen jetzt jede Menge Holzbänke und solche aus Naturstein. Immer hübsch symmetrisch angeordnet, wie in einem Garten von Le Nôtre. Schön ist auch das nicht gerade, aber in dieser Gegend sinnvoll.

Denn hier, im Herzen des Quartier Latin, wo sich Schulen, Universitäten, Bibliotheken, wissenschaftliche Einrichtungen konzentrieren wie nirgends sonst in einer europäischen Metropole, haben Studenten nun mal Vorrang vor Touristen. Und es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen den Pariser Sitzbalken zu den „Begegnungszonen“ in Berlin, wo die Bullerbü-Vision eines rot-rot-grünen Senats mit klobigen, bunten Sitzwürfeln so infantil Gestalt annahm.

Apropos Quartier Latin. Dieses Herz von Paris umfasst das 5. und 6. Arrondissement, also seinen gelehrtesten und seinen teuersten Bezirk – und es hat erfreulicherweise im Moment eindeutig wieder einen Lauf. Nicht nur, dass es mit der Sorbonne, dem Collège de France, den „Grandes Écoles“ des Henri IV oder Louis Le Grand eine enorme Dichte an renommierten Ausbildungsstätten aufweist.

Es besitzt auch eine beachtliche Anzahl von angeschmuddelten, aber gemütlichen Programmkinos, in denen der Kanon des europäischen Films durch wechselnde „Festivals“ lebendig gehalten wird. Irgendwo kann ich sie also immer noch bestaunen, meine Göttinnen in ihren Glanzrollen, in einem der Schuhschachtelkinos des Quartier Latin. Ganze 13 sind es. In einem Stadtgebiet, auf dem ca. 100.000 Menschen leben!

Das Quartier Latin ist aber auch wieder Kult für Leute, die nicht an Kinoklassikern, Kirchen, Museen oder traditionsreichen Brasserien wie dem Balzar oder dem Vagenende und Cafés wie dem Deux Magots interessiert sind. Schuld daran ist die Netflix-Serie „Emily in Paris“. Ihretwegen werden Busladungen auf der unscheinbaren Place de l’Estrapade hinter dem Henri IV ausgespuckt, wo besagte Emily, eine Amerikanerin, sich einquartiert hat und wohin sie nach ihren Abenteuern immer wieder wie in einen Schutzraum zurückkehrt.

Hier wirkten einst die Folterknechte

Als ich in die Gegend komme, stehen sich zwei jugendliche Touristengruppen vor der kleinen Bäckerei am Platz die Beine in den Bauch. Dort holt Emily nämlich immer morgens ihre butterweichen Croissants. Ob sie (oder Emily) wissen, dass an dieser Stelle lange Zeit die Deserteure der französischen Armee auf grausame Weise zu Tode kamen? Eine Estrapade ist nämlich eine Folteranlage.

Ein hohes Holzgerüst. Den Delinquenten wurden die Arme hinter dem Rücken an den Handgelenken zusammengebunden. Dann wurden sie nach oben gezogen und schließlich aus großer Höhe fallen gelassen. Wenn man das einmal gehört oder gelesen hat, dann meidet man eher diesen Ort. Ich entferne mich also schnell und gehe nun die Rue de l’Estrapade entlang.

Vor der Nummer 3 grüße ich meinen Lieblingsaufklärer, Denis Diderot. Dieser große Humanist, dem wir nicht nur viele Artikel der epochalen „Enzyklopädie“ verdanken, sondern auch den ersten Parisroman („Rameaus Neffe“) und viele geistreiche Feuilletons, er wurde hier im Jahr 1749 urplötzlich verhaftet. Man warf ihn ohne Prozess ins Gefängnis von Vincennes. Eine Tafel erinnert an diesen Akt der Justizwillkür.

Ja, Paris, die Stadt der Liebe und des Lichts, hatte immer auch seine dunklen Seiten, wie man sie zuletzt bei den Krawallen erleben konnte, obwohl Paris Saint-Germain die Champions League gewonnen hat. Bevor mich die Schatten einholen, laufe ich schon fast die Montagne Sainte-Geneviève hinunter. Denn ich will mich jetzt bei Roland Keniger in der Rue du Sommerard von den Schrecken der Vergangenheit erholen.

In Kenigers eigentümergeführtem Hotel Marignan ist man wieder in der Stadt des Noch. Es bietet sich im Wesentlichen noch so dar, wie es schon meine Mutter erlebte, die hier 1953/54 ihr Pariser Studienjahr verbrachte, in direkter Nähe zur Sorbonne. Ihr Balkonzimmer lag im 5. Stock. Sie musste es zu Fuß erklimmen, und noch immer gibt es keinen Aufzug. Dafür im Frühstücksraum wechselnde Kunstausstellungen.

Keniger ist der Sohn jenes Ehepaars, das zu Zeiten der Mama das Hotel betrieb. Man kann sich wunderbar mit ihm über die Veränderungen von Paris unterhalten. Wie findet er etwa den Anbau des Musée de Cluny, des großartigen Mittelaltermuseums gleich um die Ecke? Er sieht den komischen Kupferkoloss, der auf Gold getrimmt ist, pragmatisch: War halt nötig, barrierefrei und so.

Sein Vorschlag zur Güte: „Halten Sie es doch wie Alexandre Du Sommerard, der Initiator des Museums und Patron unserer Straße: Der war so angewidert von seiner Gegenwart, der Julimonarchie unter Louis Philippe, dass er in ein Turmzimmer des Hôtel de Cluny zog, um nur noch von Mittelalter umgeben zu sein.“ Ich kontere: „Das ist mein Mann! Aber ich würde lieber in ein Stadtpalais aus dem Zweiten Kaiserreich ziehen.“ Nachdem ich Keniger das Versprechen abgenommen habe, dass er bis zu meinem nächsten Besuch keinen Fahrstuhl im Hotel einbaut, mache ich mich auf ins Paris des Second Empire, wie es der berühmte Baron Haussmann gestaltet hat.

„Ökos haben uns das Geschäft versaut“

Auf dem Boulevard Saint-Michel, zu dem Haussmann in der Mitte des 19. Jahrhunderts die alte, gewundene Rue de la Harpe als Nord-Süd-Achse begradigt und ausgebaut hat, bietet sich zwar die herrliche Sinfonie in Grau dar, die der Stadtpräfekt Napoleons III. mit seinen prachtvollen Häusern in Blockbebauung schuf. Aber was sehe ich? Viel Leerstand und überraschend wenig Menschen.

Auf der Höhe des Jardin du Luxembourg biege ich nach rechts und richte mich darauf ein, dass ich, wie sonst immer, zehn, fünfzehn Minuten vor meinem Stammcafé Le Rostand auf und ab gehen muss, bevor ich einen der begehrten Plätze auf der Terrasse ergattern kann. Aber weit gefehlt. Da ist viel frei und die Kellner, die früher immer taten, als würden sie einen nicht sehen, stürzen sich förmlich auf mich. Wie kann das sein?

„Aber ja, Monsieur“, erklären sie mir die neuen Verhältnisse, „die Ökos haben uns auch hier das Geschäft versaut mit ihrer Autofeindlichkeit und ihren Fahrradspuren. Die Leute kaufen in der Banlieue ein und gehen danach dort einen Kaffee trinken. Oder sie hocken zu Hause und bestellen gleich bei Amazon.“ Und in der Tat: Auf dieser Geschäfts- und Flaniermeile spielt sich kaum noch Pariser Leben ab.

Zwar gibt es erfreulicherweise noch die Buch- und Schreibwarenhandlung Gibert Jeune, aber sie ist die einzige, die noch ausharrt. Cafés haben zugemacht. Später werde ich im 8. Bezirk entdecken, dass auch die Papeterie „L’Armorial“ ihren wunderbar altmodischen Laden aufgeben musste. Wie gut, dass ich mich hier beim letzten Mal noch ordentlich eingedeckt habe mit Briefkarten. Aber wer verschickt die sonst noch?

Wo sind denn nun die Pariser? Sie, von denen wir gelernt haben, den öffentlichen Raum als kommunikative Bühne zu gestalten? Die es auf die Café-Terrassen zog, auf die breiten Boulevards. In die vielen Kinos, zu denen lange auch Pornokinos gehörten, die sich keineswegs versteckten, sondern wie das Rex am Boulevard de Bonne-Nouvelle ihre Neuheiten so groß plakatierten wie die Uraufführungskinos der Champs-Élysées. Sitzen sie alle stumpf und dumpf im Homeoffice wie wir introvertierten Deutschen?

So ganz dann doch nicht. Als ich vom Le Rostand in den Jardin du Luxembourg hinübergehe und auch als ich im Parc Monceau promeniere, werde ich eines Besseren belehrt. Da herrscht Gedränge wie auf dem Jahrmarkt! Mein Fazit also: Das öffentliche Leben spielt sich in Paris jetzt in den Grünanlagen ab. Und Modiano? Hat er recht mit seinem Paris als fremde Stadt? Wohl eher nicht. Also Tucholsky? Seine liebevolle Ode an den Parc Monceau beginnt so: „Hier ist es hübsch. Hier kann ich ruhig träumen.“

Träumen kann man hier nicht mehr, zu wuselig. Aber was er am Schluss des Gedichtes schreibt, das bleibt wahr und wird hoffentlich immer wahr bleiben: „Die Kinder lärmen auf den bunten Steinen./ Die Sonne scheint und glitzert auf ein Haus./ Ich sitze still und lasse mich bescheinen/ und ruh von meinem Vaterlande aus.“ Das ist es eben: Man ruht von seinem Vaterlande aus. Noch. Merci, Paris!

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