Die Insel Berk liegt weit draußen im Ozean. Beste Voraussetzungen für die Evolution, Kapriolen zu schlagen. Zwei Spezies haben sich im Survival of the Fittest auf dem schroffen Eiland durchgesetzt: zum einen die Wikinger, zum anderen die Drachen. Die einen haben sich zu einer arg homogenen Kaste von Kriegern entwickelt, die anderen eine gefährlich differenzierte Artenvielfalt ausgebildet. Im ewigen Kampf sind sie miteinander aufs Innigste verbunden. Beide betrachten sich als Landplage, die einen sagen verächtlich „Ungeziefer“, die anderen spucken Feuer.

So geht es seit Jahrhunderten. Man rühmt sich gegenseitig seiner im Krieg verlorenen Gliedmaßen und humpelt doch immer wieder in die nächste Schlacht. Für ein wenig Diversität für das internationale Kinopublikum sorgen Vertreter exotischer Wikingerstämme aus „Fernost“ und der „sonnenverwöhnten Küste Blalands“. All diese rüpelhaft liebenswerten Wikinger haben ihre ganze Existenz auf die Ausrottung der Drachen kapriziert.

Die wiederum gehorchen einer höheren Macht, scheinen staatenbildend organisiert zu sein. Jedenfalls möchten die Wikinger ihr Nest ausräuchern, wenn sie es denn mal finden. Wobei ausräuchern bei Kreaturen, die selbst Rauchwolken aus ihren Nüstern stoßen, aus krokodilartig aufgerissenen Rachen Funken schlagen oder, wie ein besonders wildes Exemplar, aus dem ganzen schuppigen Körper Flammen schlagen, nicht die sinnvollste Strategie ist.

„Hör auf so zu sein wie du“

Hicks macht sich nicht nur darüber so seine Gedanken, über den Sinn eines Daseins, in dem Jugendliche erst vollwertig in den Stamm aufgenommen werden, wenn sie ihren ersten Drachen getötet haben. Hicks ist noch weit entfernt davon, zur ständigen Betrübnis seines Vaters Haudrauf, der auch der Clanchef auf Berk ist. Hicks’ Inselbegabung besteht nicht darin, ständig Todesmut zu beweisen, er pflegt die Social Skills. Damit ist er allerdings ziemlich alleine in seiner Wikingergesellschaft. „Hör auf so zu sein wie du“, hört er sogar von dem ihm zugeneigten Dorfhandwerker Grobian, der für jede Kampfhandlung eine neue Prothese auf seinen Armstumpf steckt und sich ein Holzbein mit Wade geschnitzt hat.

Aber Hicks, der auch noch „der Hüne III.“ heißt, ist eben ein tollpatschiger Schlaks mit Emo-Haarschnitt und fehlender Gesichtsbehaarung, während die Wikinger sich phänotypisch durch Leibesfülle, alte Zöpfe und prächtige Bartfrisuren auszeichnen und ohne verfilzte Pelzjoppe und Hornhelm niemals vor die Tür gehen würden. Der Junge aber bleibt auch gern mal daheim, um an irgendwelchen Apparaten zu tüfteln, mit denen es gelingen könnte, einen Nachtschatten aufzureiben.

Das ist die geheimnisvollste Kreatur im Drachenvolk. Kein Mensch hat sie je gesehen. Wo sie sich verbirgt, deutet nur ihr Name an. Hicks schießt also mal ins Dunkelblaue und erwischt tatsächlich einen solchen Nachtschatten. Es wird sein Leben verändern und das der gesamten Schicksalsgemeinschaft von Fressfeinden – zum Besseren –, aber auch Opfer fordern.

„Drachenzähmen leicht gemacht“, die Geschichte vom friedlichen Hicks, von seinem Schwarm, der schönen Astrid, dem Wikingerclan – und natürlich von Ohnezahn, dem jungen Nachtschatten, mit dem sich Hicks anfreundet, ist eine zwischen 2003 und 2019 veröffentlichte Kinderbuchreihe der britischen Autorin Cressida Crowell. Im Jahr 2010 brachte DreamWorks den ersten computeranimierten Spielfilm auf Basis des erfolgreichen Plots heraus, der weltweit fast eine halbe Milliarde Dollar einspielte. Jetzt versucht das von Steven Spielberg mitgegründete Animationsstudio („Shrek“, „Madagascar“, „Kung Fu Panda“) an den Erfolg anzuknüpfen – mit der ersten „Realverfilmung“. Mason Thames spielt den Hicks mit tänzerischer Geschmeidigkeit, Nico Parker seine ungestüme Wannabe-Freundin Astrid.

Der eigentliche Star des Films aber ist Ohnezahn, der junge schwarze Nachtschatten, dem Hicks mit seinem Überraschungsangriff das Seitenruder seines langen Drachenschwanzes amputiert hat. Was ihn ebenfalls zum Tollpatsch macht, der statt zu fliegen, sich flatternd in ein felsiges Tal zurückgezogen hat. Dort findet ihn Hicks.

Und die Anbändelung zwischen dem Jungen, der doch zum Helden geboren ist, und dem digital animierten Jungdrachen ist anrührend. Ohnezahn bewegt sich wie eine scheue Katze, sieht mit seinem flachen Schädel und den grünen Augen auch ein bisschen wie ein Kater aus. Er faucht, nur um bald zu schnurren, er buckelt, obwohl er doch eigentlich gekrault werden will. Aber auch ein Drache kann eben nicht aus seiner Haut.

Des Widerspenstigen Zähmung gelingt – und das ist eine Metapher, die sich bis zum Schluss durch die Geschichte ziehen wird – dank einer Prothese. Hicks repariert dem Nachtschatten die Schwanzflosse, sattelt auf und fliegt mit ihm los. Doch außer den beiden Freunden, die sich gesucht und gefunden haben, ist natürlich niemand sonst schon bereit für so etwas wie Freundschaft, Mut, Toleranz und das Überwinden von Vorurteilen. Das sind die Werte, die in den zwölf Romanen der Reihe vermittelt werden und die auch in dem animierten Filmdreiteiler gut rübergekommen sind.

Den neuen Film – und da kann man wohl gewiss sein, es wird nicht bei einem bleiben – hat ebenfalls Dean DeBlois gedreht. Emotional ist aber noch Luft nach oben. Der Fokus lag offenbar beim avancierten CGI-Design der Drachen, ihrer atemberaubenden Flugmanöver und der imposanten Schlachten. Doch eigentlich will man mehr Zeit mit Hicks und Astrid, ihrer pubertierenden Clique und natürlich Ohnezahn verbringen. Denn das ist die Botschaft, die zwischen den allzu schnellen Schnitten hervorblitzt. Drachen und Wikinger sind eben auch nur Menschen.

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