Im Herbst 2011 haben sie ihn in London in das Konferenzzimmer eines Hotels gesetzt. Brian Wilson wirkt, als wäre er nicht da. Vielleicht sieht er sich noch am Keyboard in der Royal Festival Hall, wo er am Vorabend vom Bildschirm seine alten Lieder sang, die Klassiker der Beach Boys, seiner Band, von „California Girls“ bis „Wouldn’t It Be Nice“. Vielleicht ist er auch wieder dort, in Kalifornien in den Sechzigern. Er brenne darauf, interviewt zu werden, erklärt sein Betreuer. Brian Wilson trägt ein himmelblaues Hemd mit Blüten, er blickt aus dem Fenster und sagt: „Yeah.“ Mit „Yeah“ beantwortet er auch ausführlichere Fragen. Manchmal schweigt er einfach, dann spricht sein Betreuer für ihn.

Es geht um das Album „Smile“ von 1967, um das unvollendete der Beach Boys, das 2011 endlich erscheinen soll, nach 44 Jahren. „Smile“ wurde zum Mythos und dadurch zum schönsten Album aller Zeiten. Wäre es das auch geworden, hätten es die Beach Boys und die Plattenfirma nicht verhindert? „Yeah“, sagt Brian Wilson, wendet seinen Blick vom Fenster ab und flüstert: „Es war ein Versprechen.“ 14 Jahre nachdem das Vermächtnis seiner Jugend an die Welt veröffentlicht wurde, ist Brian Wilson nun in Kalifornien gestorben.

Selbst in solchen Interviews wandte er der Geräuschquelle sein linkes Ohr zu. Auf dem rechten war er taub. In seinen Memoiren „I Am Brian Wilson“ von 2016 steht, es sei beim Spielen passiert. Sein Bruder Dennis wiederum, der Schlagzeuger der Beach Boys, machte ihren Vater, Murry Wilson, der die Söhne ins Musikgeschäft prügelte und sich Brian als Kopf und Komponisten dabei mit besonderer Strenge zuwandte, verantwortlich.

Glücklich war Brian, wenn er allein in seiner Kammer am Klavier saß, bei geschlossenen Jalousien. Ihn ängstigten die Sonne und das Meer, die Wellen und die Menschen. Er schrieb Songs wie „Surfin’“, „Surfin’ U.S.A.“ und „Surfer Girl“, stand aber nur ein Mal, in einer Samstagabendfernsehshow, auf einem auf der Bühne liegenden Surfbrett und ruderte mit den Armen in der Luft. Auf Bandfotos trägt er das Brett unter dem Arm wie eine Notenmappe. Licht- und wasserscheu erfand er seinen inneren Strand in der Musik, das Paradies im Pop. In Mono. 

Bereits 1963 sang er „In My Room“, den Song über sein Leben im Exil der eigenen Lieder. 1964 brach er bei den Beach Boys auf einer Tournee zusammen, 1965 zog er sich ins Studio zurück, und 1966 fiel das Album „Pet Sounds“ bei den Plattenkäufern durch: Die Beach Boys zeigten sich nicht mehr am Strand, sondern im Streichelzoo, sie sangen über Frauen mit kurzen Haaren, stellten spirituelle Fragen und versuchten, Brian Wilson davor zu bewahren, sich in einem parallelen Universum musikalischer Mysterien, Drogen aller Art und Hermann Hesses Prosa zu verlieren. Dafür blieben ihm ihre Konzerte und Tourneen erspart.

Während der Rest der Band durch Japan reiste, nahm Brian Wilson unbehelligt seine „Teenage Symphonie to God“ auf. Ihm schwebte ein Opus Magnum in vier Sätzen vor zu den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde: Dafür setzte er den Musikern, die auf seiner Hacienda für ihn spielten, Brandschutzhelme auf, sie stiegen in den Pool und musizierten in Marihuanawolken. Sand ließ er sich unter seinen Flügel schaufeln („Yeah. Der Sandkasten“, Brian Wilson im Gespräch 2011). Er rannte seinen Hunden hinterher, um das perfekte Bellen festzuhalten, ließ die Musiker auf alten Autohupen spielen, klemmte Haarnadeln an die Klaviersaiten und stattete die Musiker mit Möhren, Rettichen und Gurken aus, um einen Song über Gemüse zu begleiten („Yeah. Authentische Musik“, Brian Wilson im Gespräch 2011). Als sie gerade „Vegetables“ einspielten, stand Paul McCartney von den Beatles in der Tür, nahm eine Knolle und wirkte als Gaststar mit („Yeah. Paul spielte den Sellerie“, Brian Wilson im Gespräch 2011).

Die Beach Boys und die Beatles: „Pet Sounds“ soll die Antwort auf das Album „Rubber Soul“ gewesen sein und „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ die Rückantwort der Beatles auf das Album „Pet Sounds“ von den Beach Boys. Dass die „Teenage Symphonie to God“ unter dem Titel „Smile“ als Album 1967 nicht erschien, erklären Pophistoriker mit Brian Wilsons Wesen: „Sgt. Pepper“ habe ihn als Meisterwerk so eingeschüchtert, dass er „Smile“ versteckte. Angeblich verbrannte er sogar die Tonbänder („Yeah. Was? Nein!“, Brian Wilson im Gespräch 2011).

An ominösen Narrativen, warum „Smile“ als Album 44 Jahre auf seine Veröffentlichung warten musste, herrscht kein Mangel. War Brian Wilson über sich und seine eigene Musik erschrocken, als er „Fire“ aufgenommen hatte und in Kalifornien die Hügel brannten? Hatte er den Feuersturm entfesselt? War die Plattenfirma Capitol entsetzt über die Songs, die keine Songs mehr waren, jedenfalls keine, die sich als Beach-Boys-Songs verkaufen ließen? Fanden sich die Beach Boys selbst in den Songs nicht mehr wieder, die Brian Wilson mit dem Hipster Van Dyke Parks geschrieben hatte?

„Good Vibrations“ mit dem Teremin, einem obskuren Instrument aus der Sowjetunion, kam noch als Single in die Läden. Andere Stücke fanden sich auf späteren Alben wieder, wo sie nicht so auffielen. Schon 1966/67 nahmen Stücke wie „Do You Like Worms“, „Heroes and Villains“, „Cabin Essence“ und „Wind Chimes“ einiges vorweg, was die sonnigen Sechziger verschatten sollte. Drogen, die den Geist erweiterten und töteten, die Gegenkultur, den Vietnamkrieg und Charles Manson, mit dem sich die Beach Boys eingelassen hatten, bevor er mit seinen Morden das Jahrzehnt beendete. Man hätte es schon hören können zwischen DooWop und alteuropäischer Vokalpolyphonie, Waldhörnern und Westernsounds.

Ob „Smile“ Brian Wilson in den Wahn trieb, oder ob „Smile“ schon ein Symptom seines Syndroms war: Einer der besten Songschreiber der Sechzigerjahre zog sich in den Siebzigern zurück, lag wochenlang im Bett, sah fern und aß, während die Beach Boys, abgehängt vom Zeitgeist, ihre Nostalgiekonzerte gaben. In den Achtzigern verschwand er. 1983 starb sein Buder Dennis; er ertrank, als einziger der Band, der regelmäßig, surfte, im Pazifik.

1988 war Brian Wilson plötzlich wieder da mit einem Soloalbum, das „Brian Wilson“ hieß und einen seiner schönsten Songs enthielt. „Ich lag in meinem Zimmer und im Fernsehen liefen die Nachrichten. Es gab viele Verletzte draußen, was mir wirklich Angst machte“, sang er in „Love & Mercy“. Noch mehr Angst machten ihm seine eigenen inneren Verletzungen und ein Mephisto namens Eugene Landy, der ihn seit den Siebzigerjahren therapierte, unter Drogen setzte und schließlich entmündigen ließ. Landy tauchte als Autor auf dem Album auf, in Brian Wilsons Testament und in den Studios von Hollywood, um einen Film über Genie und Wahnsinn eines von Dämonen heimgesuchten Musikers zu drehen. William Hurt sollte Brian Wilson spielen.

In den Neunzigern gelang es seinem Bruder Carl, er war der Gitarrist der Beach Boys und starb 1998 an einem Gehirntumor, den Therapeuten mit einer gerichtlichen Verfügung zu vertreiben. 1995 feierte Brian Wilson seine künstlerische Wiederauferstehung im Filmporträt „I Just Wasn’t Made for These Times“ von Don Was und dem Album „Orange Crate Art“ mit Van Dyke Parks über das Kalifornien der bunten Bilder auf Orangenkisten. Van Dyke Parks und Brian Wilson griffen wieder nach den losen Fäden, die ihnen fast drei Jahrzehnte vorher bei den Aufnahmen zu „Smile“ entglitten waren. 1996 erschien zunächst „Pet Sounds“ neu in einer kritischen Gesamtausgabe. 1998 folgte Brian Wilson zweites Soloalbum; auf „Imagination“ sang er frohe Botschaften: „Die schönen Tage sind zurück. Der Himmel ist wieder so blau und klar wir früher.“

Das Jahrhundert des seriellen und industriellen Liedguts ging zu Ende, alle Welt sprach vom neuen Millennium und verfiel dabei in eine seltsame Retromanie. Die Menschheit sehnte sich nach Mythen und Legenden, nach Geschichte und Geschichten. Dafür hielt die Popmusik nichts Schöneres bereits als „Smile“, das größte Werk, das nie erschienen war. Mit Brian Wilsons Segen stellten Programmierer CD-ROMs (die Vorfahren der DVDs) mit sämtlichen auf Schwarzpressungen und im damals sogenannten Cyberspace kursierenden Aufnahmen zusammen und verknüpften alles miteinander über Hyperlinks. Im Internet setzte sich „Smile“ zum Meisterwerk zusammen. Brian Wilson hatte eine neue Frau, Melinda Ledbetter, die neben seinem Leben auch seine Geschäfte ordnete, und eine neue Band, die Wondermints mit einem musikalischen Direktor, Darian Shanaja, der auch bisher ungespielte Stücke werktreu für die Bühnen restaurieren konnte.

Brian Wilson gab wieder Konzerte. Am Yamaha-Keyboard sang er sich durch „Pet Sounds“, surfte durch sein Frühwerk und tanzte dazu im Sitzen. Im geschützten Raum der Musiker, die ihn umgaben und endlich so spielten wie die Musiker in seinem Kopf seit 1966/67. Er gab sogar Interviews. Im Januar 2002 rief seine Frau aus Kalifornien an und sagte, Brian sei bereit. Wie es ihm ging? „Yeah. Gut.“ Woran es lag? „Yeah. An Melinda.“ Und an seinen Musikern? „Yeah. Auch.“ Was anders war als mit den Beach Boys? „Yeah. Ich habe heute eine bessere Band.“ Wie sein Verhältnis zu den Beach Boys damals war? „Yeah. Wir sehen uns nur noch vor Gericht.“ Worum sie stritten? „Yeah. Um Geld.“

2004 feierte „Smile“ in London seine Weltpremiere, in der Royal Festival Hall, als konzertante „Teenage Symphonie to God“ von 1967. Weißhaarige Männer weinten im Gestühl und hielten die kopierte, 37 Jahre alte Titelliste, die Brian Wilson damals handschriftlich der Plattenfirma übergeben hatte, in den Händen wie eine Gesetzestafel. Van Dyke Parks war da. Die Streicher trugen Spielzeughelme, das Ensemble musizierte mit Gemüse, und Brian Wilson spielte auf der Bohrmaschine. Zum Finale, „Good Vibrations“, sang der ganze Saal, im Stehen selbstverständlich, und vollendete das Werk.

Seine gesungenen Fußnoten dazu veröffentlichte Brian Wilson vier Jahre danach: „That Lucky Old Sun“, das Album, war nach seinem ewigen Lieblingslied benannt, nach einem Klassiker des Great American Songbook in der Fassung von Louis Armstrong. Brian Wilson hatte dem Verlag die Rechte abgekauft, jetzt war die Hymne seiner Kindheit seine eigene. Er selbst und Van Dyke Parks schrieben den Rest der Songs mit Zeilen wie: „Ich hatte diesen Traum, ich sang mit meinen Brüdern in vollkommener Harmonie.“ „Ich sprang ins Wasser, obwohl ich nicht schwimmen konnte.“ „Die Sonne knipste ich mit 25 aus, weil meine müden Augen ihre Strahlen nicht ertragen konnten.“ Dann, 2011, das Album „Smile“, amtlich als allumfassende Edition mit der naiven Coverzeichnung eines offenen Fachgeschäfts für Lächeln aller Art.

Im Herbst 2011, beim Interview in London, antwortet Brian Wilson auf die Frage, wer sich denn nun wirklich gegen „Smile“ verschworen hatte. Seine Plattenfirma? Seine Band, die Beach Boys, mit seinem Cousin Mike Love, der Van Dyke Parks nicht mochte, weil er ihn für einen Intellektuellen hielt? „Yeah. Ich sagte zu Mike: ‚Mike, unsere Musik muss wachsen. Wir können nicht lebenslang nur Surfsongs spielen.‘ Und Mike sagte: ‚Stimmt.‘ Ich weiß auch nicht, warum er ‚Smile‘ nicht mochte. Vielleicht klang es für ihn nicht mehr nach den Beach Boys.“ Also hat er „Smile“ verhindert? „Yeah. Nein! Das waren Mister Parks und ich. Es war zu früh dafür. Es brauchte seine Zeit, damit die Menschheit es versteht. Nun haben wir entscheiden, dass es soweit ist.“ Die Bänder waren nicht verbrannt oder verschollen? „Yeah. Nein! Alles war noch da.“ Es ist vollbracht? „Yeah!“ Sein Betreuer starrt ihn an, Brian Wilson lächelt.

Anschließend ging er wieder auf Welttourneen mit den Beach Boys in verschiedenen Besetzungen, als hätte es ihre Gerichtstermine nie gegeben. Als 2015 „Love & Mercy“ in die Kinos kam und auf der Berlinale lief, sein Biopic, führte ihn seine Ehefrau und Managerin über die roten Premierenteppiche. Zerstreut aber zufrieden winkte er von dort den Menschen zu – er konnte sie ja auch nicht länger meiden, wenn er auf der Bühne am Klavier saß. „Love & Mercy“ war der Film über sein Leben mit Paul Dano, der die Panikanfälle des jungen Brian vielleicht ein wenig übertrieben spielte, aber so verlangt es Hollywood in seinen Biopics. Den älteren Brian stellte John Cusack dar, indem er hilflos durch den Achtzigerjahre trottete, bis er Melinda, einer blonden Fee, im Autohaus begegnete und ihr seine Visitenkarte zusteckte, auf die er einen Hilferuf gekritzelt hatte. Er wurde errettet und erlöst.

In „’Til I Die“ sang er, er sei ein Korken in der See, ein Stein im Erdrutsch und ein Blatt im Wind, verloren, seelenlos und ausgeliefert: „All dies bin ich bis zu meinem Tod.“ Was war sein Lebenslied? „Yeah. ‚Surfer Girl‘.“ (Brian Wilson im Gespräch 2011). Er wurde 82 Jahre alt.

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