Pfingstmontag, um kurz nach 22 Uhr, bricht im Hamburger Thalia-Theater ein unbeschreiblicher Jubel aus. Über acht Stunden hat das Publikum die Eskapaden des Doktor Faustus mit allerlei Gretchen- und Helena-Geplänkel verfolgt, ist durch die kleine und die große Welt gereist und hat es nun ans Ende des zweiten Teils von Goethes epischer Tragödie geschafft. Faust ist begraben, der Chor der Engel singt „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ und das Publikum schunkelt und klatscht mit. Man feiert an diesem Abend die Schönheit des Verschwindens, denn es ist das letzte Mal, dass die mit Preisen überschüttete Inszenierung von Nicolas Stemann gezeigt wird – fast 14 Jahre nach der Premiere.

Dass ein Theaterabend nicht nur ein oder zwei Spielzeiten, sondern gar Jahre überdauert, ist selten und ungewöhnlich. Als Stemann 2011 „Faust I+II“ auf die Bühne brachte, gehörte er zu den angesagtesten Regisseuren im deutschsprachigen Theater. Die Theatermittel der Postdramatik auf Klassiker wie Friedrich Schillers „Die Räuber“ oder Textflächen wie Elfriede Jelineks „Die Kontrakte des Kaufmanns“ loszulassen, war neuartig und virtuos. Auch Goethe begegnete Stemann mit Spielfreude statt Ehrfurcht. Wo manche, wie in dieser Zeitung, zwar fasziniert, aber von der dekonstruktiven Mode auch frustriert waren, wurde der „Faust-Marathon“ in anderen Kritiken bejubelt: Von „Welterschaffungsperformance“ („Zeit“) und „Textdurchforstungstheater“ („Süddeutsche Zeitung“) war zu lesen, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ erlebte damals pures Theaterglück.

Und heute? Was begeistert nach fast 14 Jahren noch an der Inszenierung? Vor allem die fantastischen Schauspieler! Mit Sebastian Rudolph, Patrycia Ziólkowska und Philipp Hochmair steht die Originalbesetzung des ersten Teils wieder auf der Bühne, die „Faust“ als großen inneren Monolog aufführen. Allein, wie Rudolph sich als vielfach gespaltenes Ich durch alle Vorspiele und die ersten Szenen kämpft – insgesamt über eine Stunde als Solo –, gehört zum Besten, was das Theater zu bieten hat. Sonst hat die Inszenierung, die nach vielen Jahren in Hamburg mit Stemann weiter nach Zürich wanderte, einige Umbesetzungen erlebt. So war bei der Premiere noch ein Tänzer zu sehen, der heute als Filmschauspieler international Karriere macht: ein gewisser Franz Rogowski.

So lang im Amt wie Merkel

Klar, ein paar Zeichen der Zeit sind bei „Faust I+II“ nicht zu übersehen. 2011 stand die Öffentlichkeit noch im Zeichen von Bankenkrise und „Occupy Wall Street“, während sie heute im Bann anderer Geister ist, die die Krise rief. Auch die Szenen vom Homunculus, dem künstlichen Menschen, lassen die Debatten um künstliche Intelligenz als Neuauflage einer faustischen Fantasie erscheinen. Vor fast 15 Jahren war das noch eher Science-Fiction als Tagesberichterstattung. Und auch wenn Stemanns „Faust“ nicht an den von Frank Castorf heranreicht, vom Fachportal „Nachtkritik“ kürzlich zum besten Theaterabend des noch jungen 21. Jahrhunderts gewählt, wird man doch bestens unterhalten, was auch das begeisterte Hamburger Publikum zu schätzen weiß.

Dass „Faust I+II“ an den Pfingsttagen noch ein allerletztes Mal in Hamburg gezeigt wird, ist dem Abschied des Intendanten Joachim Lux geschuldet. Wie Angela Merkel war Lux ganze 16 Jahre im Amt und hat als großen Zapfenstreich zum Schluss ein paar Inszenierungen aus der Hochzeit seiner Intendanz – den frühen 2010er Jahren – auf den Spielplan gesetzt. Ein Best-of aus legendären Abenden: Peter Handkes „Immer noch Sturm“ von Dimiter Gotscheff mit Jens Harzer im unaufhörlichen Glitzerstrom der Geschichte (unvergessliches Bühnenbild von Katrin Brack!) oder Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ von Luk Perceval (nicht weniger sensationelles Wimmelbühnenbild von Annette Kurz!), „Moby Dick“ von Antú Romero Nunes oder „Romeo und Julia“ von Jette Steckel.

Lux, zuvor Chefdramaturg am Wiener Burgtheater, übernahm das Thalia-Theater 2009 von dem äußerst erfolgreichen Ulrich Khuon. Auch in den besten Zeiten von Lux zählte die Bühne am Gerhart-Hauptmann-Platz zu den wichtigsten im Land. Mit Perceval (jahrelang als leitender Regisseur), Gotscheff, Stemann, später Johan Simons, Jan Bosse und Leander Haußmann arbeiteten prägende Regisseure regelmäßig am Thalia-Theater. Und mit Nunes, Jette Steckel, Christopher Rüping und Anne Lenk entwickelten sich hier junge Regisseure zu prägenden. Später kam noch der aus Russland geflohene Kirill Serebrennikow mit seinem Exil-Ensemble dazu, der kürzlich mit seiner gefeierten Paradschanow-Huldigung „Legende“ Hamburger Premiere feierte. Mit den Lessing-Tagen etablierte Lux zudem ein vielbeachtetes Festival am Haus, das zahlreiche Gastspiele zeigte.

Beeindruckend war außerdem, wer unter Lux als Schauspieler am Thalia-Theater spielte und reifte, allen voran Jens Harzer, der nun mit dem Ende der Ära ans Berliner Ensemble wechselt (und zuvor auch bereits viel mit Simons in Bochum arbeitete). Doch auch das „Faust“-Trio Rudolph, Ziólkowska und Hochmair ebenso wie Jörg Pohl, Bibiana Beglau, Barbara Nüsse, Josef Ostendorf, Mirco Kreibich, Bernd Grawert, André Szymanski und Karin Neuhäuser kann man hier stellvertretend nennen. Das Ensemble wurde von Lux immer als Herzstück des Theaters gerühmt. Nur wurde an dieser zentralen Ressource durch einen straffen Spielplan und viele, auch internationale Touren oft auch Raubbau betrieben, sodass ein Star wie Harzer öffentlich die Belastung am Haus kritisierte.

Über die Jahre büßte das Haus an Bedeutung ein, das Deutsche Schauspielhaus Hamburg – seit 2013 von Karin Beier geleitet – lief dem Thalia-Theater den Rang ab. Für seine letzte Spielzeit setzte Lux nun noch einmal alte Weggefährten und Erfolgsgaranten auf den Spielplan. Dass sich darunter deutlich weniger Frauen in der Regie fanden, wurde öffentlichkeitswirksam mit einem Boykottaufruf beantwortet. Das blieb jedoch ohne große Auswirkungen, sodass Mitte Mai die letzte große Premiere gefeiert wurde: „Die Jahre“ von Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, inszeniert von Jette Steckel. „Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird“, heißt es in dem Stück. Auch das wieder ein Abend über die Schönheit des Verschwindens – und des Erinnerns.

Was bleibt? In der flüchtigen Kunst des Theaters sowieso nur Erinnerungen. Wer trotzdem etwas Bleibendes in der Hand halten mag, greift zu sieben Bänden im Schuber (im Verlag Theater der Zeit erschienen), die unter dem Titel „Zusammenkunst“ auf über 1000 Seiten akribisch die Intendanz Lux in Bild und Wort dokumentieren. Im Herbst übernimmt die aus Hannover kommende Sonja Anders, die Anne Lenk als leitende Regisseurin mitbringt, auch Steckel wird weiter am Haus arbeiten. Und Lux? Der 67-Jährige bleibt in Hamburg und wird künftig das Literaturfestival Harbour Front leiten.

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