Es hätte auch alles ganz anders kommen können. Dann wären sie auf eine ganz normale Schule gegangen, hätten irgendwo irgendwas studiert. Und wären Enddreißiger, wohnhaft in irgendeiner Reihenhaussiedlung von großer Ligusterweg-Ähnlichkeit, vielleicht Sparkassendirektor in Little Whinging oder Schulleiterin in Godric’s Hollow.
Wenn es für Daniel Radcliffe, Emma Watson, Rupert Grint und Tom Felton anno 2000 beim Casting für die Verfilmung von „Harry Potter und der Stein der Weisen“ anders ausgegangen wäre. Die Konkurrenz war groß. Sie waren zehn, elf, Felton 13 Jahre alt.
Mit dem normalen Leben in normalen britischen Bahnen war es anschließend für die nächsten zehn Jahre vorbei. In denen waren sie ein Großteil des Jahres Harry Potter, Hermine Granger, Ron Weasley und Draco Malfoy, bei Dreharbeiten der am Ende acht Filme. Ein normales Leben haben sie vermutlich auch im Rest ihres Lebensweges nicht mehr. Aber das wussten die bis dahin überwiegend schauspielerisch nicht sonderlich in Erscheinung getretenen Kinder und ihre Eltern damals noch nicht. Jedenfalls nicht genau.
Das zumindest unterscheidet Dominic Mc Laughlin, Arabella Stanton, Alastair Staut und Lox Pratt von jenen Hogwarts-Zöglingen, die ihnen im Filmstudio und im Leinwand-Hogwarts vorangingen. Die vier sind in das Quartett, um das sich alles dreht, in jener Serie mit absehbar sieben Staffeln, die HBO, der zum Filmproduktionsriesen Warner gehörende amerikanische Fernsehanbieter in den kommenden zehn Jahren aus J. K. Rowlings Zauberer-Heptalogie machen will.
Regisseur Mark Mylod und Showrunnerin Francesca Gardiner sind – aber das müssen sie natürlich sein – schon mal begeistert vom Talent der noch ziemlich kindlichen Darsteller und können es kaum erwarten, „dass die Welt ihre gemeinsame Magie auf den Bildschirmen erleben kann“, was vermutlich Anfang 2027 der Fall sein wird.
Im Durchschnitt gehen die neuen fabelhaften Vier, so sieht es jedenfalls der Papierform nach aus, ein bisschen besser vorbereitet in Warners Leavesden Studio bei Watford. Der elfjährige Schotte McLaughlin besucht seit 2020 die Performance Academy Scotland, stand mit Ralph Fiennes bei „Macbeth“ auf der Bühne und soll Projekte gedreht haben, die in diesem Jahr ins Fernsehen kommen. Arabella Stanton, ebenfalls elf und also im perfekten Harry-Potter-Alter (die eigentliche Geschichte geht an Harrys elftem Geburtstag los), spielte 2023 im Londoner Westend die Hauptrolle in Tim Minchins Roald-Dahl-Musical „Matilda“ und skatete 2024 in Andrew Lloyd Webbers „Starlight Express“ mit.
Lox Pratt, der mit wahrscheinlich 13 Jahren wie sein Draco-Vorgänger Tom Felton der Älteste des Kleeblatts ist, bezeichnet sich als Schlagzeuger, Tänzer, Surfer, Skater und Designer, ist der amoralische Jack Merridew in der ersten Serien-Version von William Goldings „Herr der Fliegen“, die noch in diesem Jahr in der BBC gezeigt werden soll – eine perfekte Vorstudie für Draco, den fiesen Slytherin-Gegenspieler Harry Potters.
Alastair Stout, der neue rothaarige Ron Weasley, ist das schauspielerisch weißeste Blatt der Vier. Von ihm weiß man, dass er ebenfalls ungefähr elf Jahr alt ist und – in einem Werbevideo – am Tisch einer typisch britischen Küche sitzt, wo ihm Mutti – sie wirkt ein bisschen wie Harrys schreckliche Tante Petunia – die „famously delicious“ Jersey Royal Kartoffeln des britischen Lebensmittelkonzerns Albert Bartlett vorsetzt.
Wettlauf mit der Zeit
Was jetzt beginnt, ist eine Wette auf die schauspielerische Zukunft und ein Wettlauf mit der Zeit. Man kann – wer hinter dem Rauschebart steckt, sieht man schließlich schlecht – den Darsteller des Professor Dumbledore relativ problemlos austauschen wie in der Potter-Filmreihe, als Richard Harris 2002 starb und Michael Gambon die Rolle übernahm, Veränderungen gerade im zentralen Dreigestirn der Schüler sind schwer zu erklären. Die Gefahr an der natürlichen Entwicklung der Darsteller zu scheitern, wie es einige Serien (kurioserweise gerade Enid-Blyton-Verfilmungen) erwischte, ist groß. Es gibt schließlich keine Zeit im Leben, in dem sich – davon erzählt J. K. Rowling eben auch – derart viel verändert wie in der Pubertät.
Die Hormone schießen ins Kraut. Und die Kinder infolgedessen völlig unmotiviert und im Rekordtempo in die Höhe und körperlich überhaupt in alle Richtungen, sie bekommen vorzeitig Bartwuchs wie Daniel Radcliffe schon im ersten Potter-Film, weswegen eine elterliche Rasurerlaubnis vonnöten war, entwickeln mit 14 durchaus andere Interessen und Talente, als sie mit elf absehbar waren (die Geigenunterrichtabbrecherquote während der Pubertät ist gigantisch), kommen in den Stimmbruch, obwohl sie gar nicht so aussehen (weswegen wiederum Radcliffe früh schon in der Postproduktion nachsynchronisiert werden musste).
„Harry Potter und die Kammer des Schreckens“, die zweite Potterei, wurde unter anderem deswegen gedreht, bevor die erste überhaupt in den Kinos war. Und selbst in Potter-freien Jahren (2003, 2006, 2008) standen Radcliffe und Co. sechs bis neun Monate im Studio. McLaughlin und Co. werden eher mehr Zeit in Leavesden zubringen: eine Staffel mit acht Folgen hat die, konservativ gerechnet, dreifache Spielzeit eines Kinofilms.
Um die schulische Ausbildung muss sich trotzdem niemand Sorgen machen. Emma Watsons Eltern hatten zwar noch versucht, ihrer Tochter ein Höchstmaß an pädagogischer Normalität zukommen zu lassen und sie lange auf ihrer alten Schule belassen. Für Arabella Stanton und ihre Mitschüler steht in Leavesden ein regelrechtes Film-Hogwarts zur Verfügung mit Privatlehrern, die bereitstehen und den Unterricht unterbrechen können, wenn es zu Verschiebungen im Drehplan geht. Die Arbeitsstundenzahl für jugendliche Schauspieler ist in Großbritannien (wie in Deutschland auch) penibel geregelt. Mehr als drei Stunden darf am Tag nicht gedreht werden, in jeder Stunde muss eine Viertelstunde Pause gemacht werden.
Auch wenn es Daniel Radcliffe am Anfang spielerisch nahm und meinte, er könne im Studio doch alles machen, was Kinder am liebsten machten, wird es eine ziemliche Viecherei werden. Die kann man sich, während man in den Krieg gegen den dunklen Lord zieht, damit schön reden, dass selbst der zweiten Reihe von Hogwarts ein Reihenhaus im Ligusterweg und eine Sparkassenexistenz in Little Whinging (alles fiktive Straßen und Orte aus dem Harry-Potter-Kosmos versteht sich) erspart geblieben ist.
Selbst sie hat eine ordentliche Filmkarriere hingelegt– Matthew Lewis, der Neville Longbottom etwa, der in den Serien „Ripper Street“ und „Happy Valley“ mitspielte, oder Katie Leung, die Harry Potters erstes Love-Interest Cho Chang war und im Kino in „Chemie des Todes“ und „Das Rad der Zeit“ auftrat, von Robert Pattinson gar nicht zu reden, der in „Harry Potter und der Zauberkelch“ als Cedric Diggory vor der Zeit eines dunkelmagischen Todes sterben musste, aber spätestens seit den „Twilight“-Filmen drei Jahre nach Hogwarts ein Superstar wurde.
Beruhigend ist zudem, dass sich während der zehn Jahre ein hogwartesker Teamgeist gebildet hat. Gerade Radcliffe, Watson, Grint und Felton halfen sich gegenseitig. Was im Fall von Felton, der nach dem Dahinscheiden des Dunklen Lords auf der Leinwand in Depression und Alkoholsucht verfiel, geradezu lebensrettend war.
Watson, die nach einem ziemlich raketenhaften Aufstieg in Hollywood inzwischen eine Auszeit genommen, in Oxford (zentraler Drehort der Potter-Filme) englische Literatur studiert hat und einen Master-Fernstudiengang in Creative Writing belegt, ist eine enge Freundin. Radcliffe half ihm beim Akklimatisieren am Broadway, wo Felton als bisher einziger Originaldarsteller in „Harry Potter und das verwunschene Kind“ auf der Bühne stand.
Typecasting als Falle
Das Schicksal von Felton, der seit dem Potter-Finale immerhin für gut zwanzig Filme und fünf Serien vor der Kamera stand, ist geeignet, beim Potter-Folgen-Unterricht in Leavesden als Beispiel dafür genommen zu werden, was man in der Post-Potter-Phase falsch machen kann. Felton, erster Potterist mit Autobiografie, ist in die Falle des „typecasting“ getappt. Felton spielte mehr Draco-Variationen, als ihm und seiner Karriere guttat. Im Gegensatz zu Daniel Radcliffe, der sich, als er nicht mehr Harry war, bis an den Rand der Absurdität Rollen suchte, in denen nicht die kleinsten Potter-Spuren vorhanden waren.
Wenn Karriereplanung, Umgang mit Medien, präventive Psychotherapie genauso auf dem Lehrplan von Leavesden steht für die kommenden zehn Jahre wie Mathematik, Englisch, Schauspiel und Krafttraining, muss uns nicht bange sein um Dominic McLaughlin, Arabella Stanton, Alastair Stout und Lox Pratt.
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