Hier würden Berliner Eliten „in maximaler Verkommenheit“ gezeigt und „der Literaturbetrieb maximal lächerlich gemacht“, attestierte die Kritikerin Iris Radisch im jüngsten „Literarischen Quartett“ (im ZDF) dem neuen Roman Nell Zinks. Und der Philosophiehistoriker Wolfram Eilenberger empörte sich, er habe seit Jahrzehnten (der Mann ist 52) nichts gelesen, was ihn so sehr geärgert habe: hanebüchene Konstruktion! Narrative Schlampigkeit! Diskursgrimassen! Gelaber, ziellos hin und her! 

Das klang gut, nach einem Roman, in dem endlich einmal nicht auf Eliten-Empfindsamkeiten und Konstruktions-Pingeligkeiten Rücksicht genommen wurde. Tatsächlich fühlt man sich der Lektüre von „Sister Europe“ erfrischt, als hätte ein kräftiger Wind das Bewusstsein aufgelockert.

Die Handlung ist nach den Maßstäben des Groß-, Berlin-, Gegenwarts- und Tiefsinnsromans völlig unerheblich: Am 21. Februar 2023 besuchen sechs Leute eine Zeremonie im Hotel Interconti, bei der einem 78-jährigen Beduinen-Dichter, mit elf von der Sinai-Halbinsel nach Norwegen geflohen, ein Preis für Verdienste um die arabische Literatur überreicht wird, den eine reiche, „aus einem der liberalen Emirate“ stammende und in Montreux lebende Erbin gestiftet hat.

Hinterher ans Buffet

Gekommen sind die Gäste nicht wegen des Dichters, sondern weil sie gebeten wurden, den Festsaal nicht so leer aussehen zu lassen, und weil es hinterher noch ein mit einem Michelin-Stern prämiertes Essen gibt. Sie kennen einander mehr oder weniger gut oder anfangs noch gar nicht: ein Architekturkritiker, seine 15-jährige Transtochter, die sich gerade in ihre neue Existenz als Frau reinfummelt (mühsam, weil die Strumpfhose dauernd verrutscht und der Oberlippenflaum entfernt werden müsste), eine mondäne, mehrfach geschiedene, aus einer Nazi-Familie stammende Freundin der Familie, ein Kleinverleger, dem es allmählich schwerer fällt, die jungen Frauen zu beeindrucken, die er im Bett bevorzugt, sein überraschend aufgetauchtes Tinder-Date, und Radi – arabischer Prinz, Sohn und Vertreter der Preisstifterin, der Berlin im Februar zu kalt ist.

Weil die Veranstaltung unsäglich langweilig war und das Essen unsäglich schlimm (auch, weil es keinen Alkohol gab), beschließen sie, noch zu einem Burger King zu wandern. Ein paar Stunden lang stapfen sie durch eine vernebelte Berliner Februarnacht und reden dabei in unterschiedlichen Konstellationen über alle erdenklichen Themen, alle paar Schritte perlt etwas Neues hoch und zerplatzt gleich wieder, bis am Ende jeder wohlbehalten im Bett landet. Nichts Dramatisches ist geschehen, dafür sehr viel Undramatisches, das man überleben kann, auch wenn es ein bisschen getriggert hat.

Wie bei „Seinfeld“

Es ist ein wenig wie in „Seinfeld“-Episoden oder in Filmen von Eric Rohmer oder Whit Stillman: Mit Konversationswitz und Selbstdarstellungsbereitschaft begabte Menschen reden über nichts Besonderes, und doch, wenn man genauer hinhört, über alles: über Identität und das Unbehagen an, in und mit ihr, darüber, wie man eigentlich leben sollte, wenn man denn könnte und warum das nicht geht, darüber, wie man zueinander findet und weswegen dann doch nicht. Nur, dass es bei Nell Zink von all dem noch mehr gibt als in filmischen Konversationskomödien: mehr Funkeln, mehr Gegenwartswahnsinn, mehr Virtuosität, mehr Eleganz, mehr Tänzeln.

Natürlich reden wirkliche Menschen nicht wie in „Sister Europe“, leider nicht einmal Angehörige verkommener Eliten, doch genau deswegen ist man immer wieder für Zinks Generosität dankbar. „In Deutschland ist es gefährlich, eine Waffe zu benutzen“, sagt etwa einmal der Kleinverleger, „sogar zur Selbstverteidigung. Das liegt daran, dass die Wände hier massiv sind. In Amerika prallen Kugeln nicht ab. Die schlagen einfach durch. Als würde man auf einen Heuballen schießen.“

Auf die Frage, warum sie einsam sei, antwortet eine der Figuren: „Aus demselben Grund wie alle. Weil das soziale Leben Arbeit macht, und ich bin faul.“ Dazu kommen die Sätze von Zink selbst, die die Konversationsfäden virtuos ineinander verweben, Charakterisierungen wie „Die Mädchen wackelten mit dem Hintern, aber nicht für ihn. Er war siebenundfünfzig“.

Am liebsten würde man bei solchen Knallern in Standing Ovations ausbrechen. Aber erstens ist Lesen ja ein allein genossenes Vergnügen, zweitens sind Zinks Sätze so gut, dass man ohne Pause weitermachen will. Wenn man sich beeilt, schafft man es, mit dem Buch in genau der Zeit fertig zu werden wie seine Protagonisten mit ihrem Abend, siebeneinhalb Stunden. Danach könnte man „Sister Europe“ gleich noch einmal lesen, langsamer diesmal. Dann fiele einem auf, wie viele doppelte Böden, Spiegelungen und Anspielungen Zink in ihrem Roman verbaut hat. Und wie elegant sie einem zeigt, dass man mit der Schwere der Geschichte (Berlin! Nazis! Kommunisten!) und den Gefängnissen von Identität (Gender! Klassen-Kluften!) auch tänzelnd umgehen könnte. Nächtens geht das ja. Der nächste Morgen kommt früh genug.

Nell Zink: Sister Europe. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. Rowohlt, 272 Seiten, 24 Euro

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