Ist Stephen King Feminist? In seinem neuen Roman „Kein Zurück“ geht es eigentlich nur um Frauen. Die Detektivin, die den Fall aufklärt, ist Holly Gibney – King-Leser kennen die grundsympathische Frau mit der Zwangsstörung und dem tief eingewurzelten Minderwertigkeitskomplex schon aus früheren Krimis. In diesem Buch lässt sie sich als Personenschützerin von Kate McKay zweckentfremden, einem weiblichen Medienstar, der durch Amerikas Städte tingelt und überall Massen von begeisterten Anhängerinnen in Fußballstadien lockt. Allerdings gibt es auch christliche Fundamentalisten, für die Kate McKay eine Dämonin ist, eine satanische Verführerin.

„Kein Zurück“ spielt ungefähr in der Gegenwart. Der Supreme Court hat das Abtreibungsrecht gekippt (das in den Vereinigten Staaten, anders als in Deutschland, nie von der Legislative in Gesetzesform gegossen wurde); ohne diesen zeitgeschichtlichen Hintergrund ist Kings Roman kaum verständlich.

Eigentlich handelt Kings Roman aber gar nicht von Frauenrechten, sondern vom Fanatismus. Die beiden Bösewichter, um die es in diesem Buch geht, sind beide von ihrer Mission erfüllt: Der eine will Gottes Willen – das heißt, den Willen der irren christlichen Sekte, der er angehört – vollstrecken und Kate McKay töten. Der andere hat Schuldgefühle und ungelöste Vaterprobleme und wird deshalb zum irren Serienmörder. (Da wir es hier mit einem Thriller zu tun haben, keiner klassischen Detektivgeschichte, in der dem Ungeheuer erst auf der letzten Seite die Maske vom Gesicht gezogen wird, kann man das ausplaudern, ohne jemandem die Spannung zu rauben.)

Sagen wir es klar heraus: Die beiden bösen Männer, die Stephen King uns in diesem Buch präsentiert, sind Würstchen, alle beide. Leider bedeutet das nicht, dass ihr Amoklauf keine Opfer fordern würde.

Kate, Corrie, Barbara und „Sista Bessy“

Also: ein feministisches Buch? Ganz so einfach ist es nicht. Auf seiner tiefsten Ebene handelt Stephen Kings Thriller nämlich von dem, was man auf Englisch „mentorship“ nennt, im konkreten Fall: von älteren Frauen, die sich um jüngere Frauen kümmern. Und hier wird es interessant. Stephen King stellt in „Kein Zurück“ nämlich zwei solcher Frauenpaare einander gegenüber.

Auf der einen Seite steht die schon erwähnte Kate McKay, die eine junge Studentin namens Corrie unter ihre Fittiche nimmt und zu ihrer persönlichen Assistentin macht. Auf der anderen Seite steht Betty Brady, eine in die Jahre gekommene, aber immer noch stimmgewaltige schwarze Soulsängerin, die sich auf der Bühne „Sista Bessy“ nennt. Sie adoptiert quasi eine junge schwarze Poetin namens Barbara, die zwar wunderschöne Gedichte schreibt, mit ihren Gedichtbänden aber natürlich keinerlei kommerziellen Erfolg hat.

Der Kontrast, den King schildert, ist plakativ: Die schwarze Soulsängerin benimmt sich halb schwesterlich, halb mütterlich, sie liebt ihren jungen Schützling ehrlichen Herzens. Die weiße Feministin dagegen erweist sich als rechtes Biest. Sie nutzt die arme Corrie fürchterlich aus. Andere Menschen taxiert sie nur danach, ob sie ihr nützlich sein können; im Kern ist diese Feministin genauso fanatisch wie die Leute, die ihr nach dem Leben trachten.

Wir dürfen hier zwei skeptische Augenbrauen lüften und fragen: Ist die Schilderung des schwarzen Frauenpaares nicht recht nah am Ethnokitsch? (Naturgemäß hat „Sista Bessie“ einen enormen Hintern und spricht mit Südstaatenakzent.) Und entspricht andererseits die kalt-fanatische Feministin nicht recht genau dem Abziehbild, das männliche Chauvinisten schon immer von erfolgreichen Frauen angefertigt haben?

Eine Rube-Goldberg-Maschine

Gemacht ist das Ganze höchst professionell: Stephen King hat eine hochkomplizierte Rube-Goldberg-Maschine aufgebaut, gleich zwei Bälle kommen ins Rollen, hier dreht sich ein Wimpel, dort hebt sich eine Schiene in die Waagrechte, Schüsse knallen, Leichen sinken ins Gras, Holly Gibney hat Eingebungen und verschickt sie per SMS, die zwei Kugeln rollen schneller und schneller und unweigerlich aufeinander zu. Nein, man langweilt sich beim Lesen nie. Am Ende steht eine großartig inszenierte, höchst befriedigende Apokalypse, wo doch dieses Wort, wie bibelkundige Christen wissen, nicht Weltuntergang bedeutet, sondern Enthüllung, Offenbarwerden des Unsichtbaren in einer finalen Katastrophe.

Man langweilt sich beim Lesen nicht, aber etwas fehlt. Stephen King war nie ein großartiger Stilist, aber ihm gelangen – etwa in seinem Horror-Roman „Es“, der immer noch das beste Buch über amerikanische Kindheit in den Sechzigerjahren ist – gelegentlich Prosapassagen von großer Schönheit. Davon findet man in diesem Thriller nichts. Die Sätze des Autors, die Bernhard Kleinschmidt in ein passables Deutsch übertragen hat, dienen dazu, die Handlung voranzutreiben; dies tun sie mit hoher Effizienz. Die Rube-Goldberg-Maschine klackert, knallt, vibriert. Aber einen ästhetischen Mehrwert gibt es nicht. Die künftige Verfilmung dieses Romans wird ihm nichts wegnehmen, eher könnte es dem Regisseur gelingen, den zweidimensionalen bunten Schemen eine psychologische Tiefe zu verleihen, die sie im Buch gar nicht haben.

Dafür gibt es einen Grund. Stephen King schrieb „Kein Zurück“, wie er im Nachwort verrät, im Herbst 2023, als er an der Hüfte operiert wurde; es gab mehrere Fassungen, und mit dem Produkt seiner unter Schmerzen erbrachten Bemühungen ist er selber nicht ganz zufrieden. Seine Fangemeinde wird es trotzdem goutieren. Alle anderen sollten warten, bis aus dem Kopfkino echtes Kino wird.

Stephen King: „Kein Zurück“. Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt. Heyne, 640 S., 28 Euro.

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