Man kann sich die Musikgeschichte – ein bisschen despektierlich – vielleicht als gigantischen Komposthaufen vorstellen. Seit Jahrhunderten haben auf ihm Komponisten ihre Entwürfe abgeworfen, Fragmente, Particells, ganze Partituren, mit denen sie nicht zufrieden waren, die ihnen nicht genügten oder der Geschichte oder irgendjemand anderem. Seltsame Triebe aus den Gewächshäusern ihrer Komponierstuben, die ihnen nicht weit genug gingen oder zu weit. Die sie unfertig liegen ließen, irgendwann vergaßen, komplett abgeschlossen in die Schublade steckten. Partituren, die Geschichten erzählen, Lücken füllen, Erklärungen liefern, Entwicklungen nachvollziehbar machen würden.

1895 zum Beispiel sitzt Anton Bruckner in Wien da, er ist 71 Jahre alt, ein Jahr bleibt ihm noch, aber das weiß er nicht. Und er sortiert seinen Nachlass. Acht Sinfonien hat er offiziell geschrieben (und immer wieder umgeschrieben, Bruckner konnte einfach nicht loslassen). Die Neunte wird er unfertig liegen lassen müssen. Eine drei Jahre vor seiner offiziell Ersten entstandene sogenannte Studiensinfonie lässt er im Nachlass. Ein ziemlich charmantes Stück musikalischer Humus. Und dann ist da noch eine Partitur aus dem Jahr 1869. Vier Sätze in g-Moll. Vollständig erhalten. Entstanden relativ rasch nach Bruckners Umzug von Linz nach Wien, nach der Überwindung einer Phase, die wir heute Burn-out nennen würden.

Drei Jahre nach der Ersten entstanden, drei Jahre vor der offiziell Zweiten, im Gegensatz zu beinahe allen anderen Sinfonien nie überarbeitet, zu Lebzeiten nie uraufgeführt, nie verschwinden gelassen. Vierzig Minuten Musik, die als die „Nullte“ in die Geschichte eingehen werden. Bruckner, der ewig mit sich Unzufriedene, hätte sie ins Feuer werfen können. Stattdessen schreibt er „ungiltig“ aufs Deckblatt. Und „ganz nichtig“. Und malt eine Null darauf und streicht sie durch.

Ende der Zwanziger des zwanzigsten Jahrhunderts und gut dreißig Jahre nach Bruckners Tod wird sie tatsächlich uraufgeführt. Seitdem findet sie sich auf beinahe jeder Gesamteinspielung der Brucknerschen Sinfonien gewissermaßen als Beifang. Geadelt als Brückenstück, als eine Art verschüttetes Missing Link des sinfonischen Kanons zuletzt von den Wiener Philharmonikern und Christian Thielemann, der geradezu einen Narren gefressen hat an der „Nullten“.

So vergessen, wie es der Titel „Symphonie oubliée“ vorgibt – der Neueinspielung des Originalklanggurus Jordi Savall – ist sie also nicht. Savall kombiniert Bruckners verschwiegene eigentlich zweite Sinfonie mit Schumanns abgebrochener eigentlich erster, mit der „Zwickauer“. 1832 entstanden, zwei halbwegs fertige Partituren samt diverser Reste zweier zusätzlicher Sätze. 22 war Schumann, gerade abgebrochener Jura-Student, musikalisch-literarisches Supertalent, das sich aufgrund einer Fingerlähmung von seinem eigentlichen Ziel, Klaviervirtuose zu werden, verabschieden musste und im Haushalt seines künftigen Schwiegervaters Friedrich Wieck unterkam. Und Komponist wurde, Musikgelehrter, geistiger Impresario der Romantik.

Gerade fünf Jahre war der sinfonische Übervater Beethoven tot. Eine Tournee von Wiecks Tochter Clara, dem Wunderkind, stand an, damals gerade mal neun Jahre alt, später verheiratet gegen den Willen von Friedrich Wieck mit Robert Schumann. Robert schrieb einen Satz, die ersten psychischen Probleme, die ihn irgendwann dazu brachten, bei Endenich in den Rhein zu springen, hatte er halbwegs überwunden.

Drei Fassungen existieren von der „Zwickauer“. Ein zweiter ist halbwegs fertig, wurde aber nie zu Lebzeiten aufgeführt. Der Rest der „Zwickauer“ ist – despektierlich formuliert – Kompost (es gibt seit 2014 eine viersätzige Version von Olaf Krüger, in Zeiten von KI, aber das nur nebenbei, wird es hunderte von künstlich vervollständigten Torsi geben).

Ein Hochbegabter klopft an

Was Savalls vergessene Sinfonien so unvergesslich macht, ist im Fall der „Zwickauer“ der heilige Ernst, mit dem seine Originalinstrumententruppe Le Concert des Nation sich der kaum zwanzig Minuten Musik annehmen. Da ist nicht irgendein sich ausprobierender Jungspund am Werk. Da klopft ein Hochbegabter, dessen Klavierwerk gerade Furore machte, massiv und ernsthaft an Beethovens Sinfonien-Kiste. Wer immer eine Ahnung bekommen möchte von der damals noch maßgeblichen Sonatenhauptsatzform und den Möglichkeiten ihrer erzromantischen Variation, nehme sich an der „Zwickauer“ ein Beispiel.

Dass sie „mager“ instrumentiert sei, hat Friedrich Wieck kolportiert und dass ihre Instrumentation keinen Effekt gemacht habe. Savall kann er nicht gehört haben. Da stürmt es und drängt es, die Farben leuchten sehr viel mehr, als man das von Schumanns durchaus prekär orchestrierten späteren Werken gewohnt ist (könnte Savall nicht die vier Schumann-Sinfonien einspielen? Man würde ein ganzes Regalbrett im CD-Schrank sparen).

Man sollte viel häufiger Konzerte mit Schumanns erstem Zwickauer-Satz anfangen. Eine perfekte Ouvertüre. Erwachsen, ernsthaft, dramatisch. Zusammen mit dem mehr oder weniger langsamen Satz hätte er sich als perfektes Alter Ego zu Schuberts „Unvollendeter“ (auch so ein Torso vom Kompost der Musikgeschichte) angeboten. Und ohne den durchaus problematisch endenden zweiten Satz, den auch Savall nicht wirklich retten kann, wäre dieser Torso ein fabelhafter Opener für jedes Konzertprogramm.

Bruckner, den notorisch unter Selbstzweifeln Leidenden, soll Felix Otto Desloff, Hofopernkapellmeister zu Wien, gefragt haben, wo denn das Thema im ersten Satz sei. Bruckner hat das komplett aus dem Konzept gebracht. Desloff möchte man heute noch nachträglich wegen erwiesener Ahnungslosigkeit aus allen Ämtern entfernen. Der erste Satz ist ein Musterbeispiel für Bruckners hohe Kunst, aus einem Nichts an Material hohe Kunst zu machen. Eine perfekte Einstiegsdroge ins Brucknersche Universum, der dritte die brucknersche Version einer italienischen Alpensinfonie, der vierte Nukleus für alle folgenden brucknerschen Finalsätze.

Den zweiten in seiner übermäßig abgeklärten Ausgeruhtheit auf der Stelle tretenden Satz kann allerdings selbst Savall nicht retten. Der leuchtet in die vergleichsweise überschaubare Architektur Bruckners, dieses musikalischen Dombaumeisters, wie es bisher noch niemand tat. Lässt alle Farben strahlen. Und wer vom ersten Thema des ersten Satzes keinen Ohrwurm davonträgt, dem ist in den Philharmonien dieser Welt nicht mehr zu helfen. „Ganz nichtig“, „annullirt“, eine Null von einer Sinfonie? Von wegen.

Jordi Savall: Symphonie oubliees. Robert Schumanns „Zwickauer Sinfonie“, Anton Bruckners „Nullte“. Le Concert des Nation. Dirigent: Jordi Savall. Alia Vox

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