Nach über 20 Jahren hat Franz Xaver Kroetz, einst der meistgespielte Dramatiker der Bundesrepublik, wieder ein Stück für die Bühne geschrieben. Die Zeit der großen Erfolge und Skandale ist für den 79-jährigen Münchner lange her, wie auch seine Rolle als Baby Schimmerlos in „Kir Royal“, mit der er in die Annalen der Fernsehgeschichte einging. Zeit für das Alterswerk? In „Geschichtn vom Brandner Kaspar“ versucht ein alter Bayer, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Und das könnte durchaus den Autor selbst meinen.

Am Münchner Residenztheater ist alles vorbereitet für das lang erwartete Comeback, man hat Philipp Stölzl („Der Medicus“) als Regisseur und Günther Maria Halmer („Münchner Geschichten“) für die Titelrolle engagiert. Doch die Premiere muss einen Tag vorher wegen Krankheit abgesagt werden, dafür springt Kroetz höchstselbst ein. „Ma miassat ois mindestens zwoamoi macha derfa im Lem, oimoi mit Fehler und oimoi danach“, heißt es im Stück – und wie im Leben so auch im Theater. Doch was heißt hier Fehler? Kroetz zeigt sich bei der spontan angesetzten Urlesung in bestechender Form.

Im hellen Anzug mit bunten Sneakern sitzt Kroetz vor dem Bühnenbild, einem riesigen hölzernen Altar zum Aufklappen wie aus einer bayrischen Dorfkirche, darauf eine direkt aufs Holz gemalte Alpenlandschaft mit Kühen. „Es geht um Berge, Dialekt und Glauben“, sagt Kroetz über sein Stück, das er „ein saftiges Volksstück aus der analogen, nicht digitalen Welt“ nennt. Der Brandner Kaspar ist eine bayrische Sagengestalt, die Franz von Kobell Ende des 19. Jahrhunderts in Mundartdichtung verewigte. 1975 gab es mit „Der Brandner Kaspar und das ewig’ Leben“ am Residenztheater eine legendäre Inszenierung von Kurt Wilhelm (einem Nachfahren von Kobell), die über 25 Jahre auf dem Spielplan stand. Es folgte außerdem 2008 mit „Die Geschichte vom Brandner Kaspar“ eine Verfilmung von Joseph Vilsmaier – mit Kroetz in der Titelrolle.

Mit seiner eigenen Fassung des „Brandner Kaspar“ zeigt sich Kroetz als gealterter Heimatdichter. Überraschend? Eigentlich nicht. Kroetz war immer ein zerrissener Heimatdichter, zu Hause im Widersprüchlichen. Aus Elend und Armut der Nachkriegszeit brachte er es zu Mercedes und Maßanzug, er war Katholik (im Geiste, weil aus der Kirche ausgetreten), Kommunist (nicht nur im Geiste, weil in die Deutsche Kommunistische Partei eingetreten) und Kolumnist (für „Bild“). Wie sein Wegbegleiter Rainer Werner Fassbinder sah sich Kroetz als Erbe von Marieluise Fleißer, der Ingolstädter Koryphäe neuer Volksstücke. So betrachtet ist sich Kroetz treu geblieben.

Kroetz huldigt mit „Geschichtn vom Brandner Kaspar“ dem bayrisch-barocken Lebensgefühl. Der Brandner ist „a Odrahter“, ein Durchtriebener, der dem „Boandlkramer“, dem Tod, bei ein paar Glas vom guten Kerschngeist noch ein paar Lebensjahre abluchst. Doch lässt sich der Tod bescheißen? Und wofür will man leben? Es ist keine Idylle, die Kroetz schildert, mehr „Höllentrip und Himmelfahrt“, wie es im Stück heißt: Es geht um Einsamkeit im Alter, eine verlorene Tochter, ein totes Enkelkind. Und nur ganz am Rande auch um Politik: „De wo regiern, san oft die bledan wia de, wo regiert wem.“ Die Bauernschläue ist Kroetz merklich näher als studierte Besserwisserei.

Wenn der Himmelswächter Petrus auf Bayrisch flucht oder der Tod nach einigen Schnäpsen mächtig einen im Tee hat, lacht der ganze Saal. Kroetz weiß zu unterhalten, er liest und spielt mit Hingabe. Und doch überwiegen die melancholischen Momente. „I moag nimmer“, sagt der Brandner Kaspar am Ende wie als bayrische Version von Bartlebys „I would prefer not to“, mehr des Lebens müde als satt. Liegt es am Alter? Oder an der berühmten bayrischen Morbidität? Dass Gerhard Polt, vier Jahre vor Kroetz geboren, in den benachbarten Kammerspielen mit dem ebenso volks- und todesnahen Schauspiel „A scheene Leich“ auf dem Spielplan steht, lässt kaum an Zufall glauben.

Durch das Stück von Kroetz zieht sich ein Hadern an den Glücksversprechen der neuen Zeit, eine Skepsis gegenüber der technischen Entgrenzung des Menschen. Kaum verwunderlich einem Autor, der öffentlich bekennt, noch immer auf der Schreibmaschine zu tippen. So findet sich unter den Regieanweisungen auch der fromme Wunsch, es mögen „nur alte Theatermittel“ verwendet werden, mit viel Bühnenzauber. Das ist eine Liebeserklärung an das alte Theater der Fantasie, das die kargen Hinterzimmer der Wirtshäuser in kleine Feststätten der Vorstellungskraft verwandelte. Auch das ist wenig verwunderlich, da Kroetz wiederholt geäußert hat, wie wenig er mit den zeitgenössischen Regieeitelkeiten im Theater anfangen kann.

Am Ende gibt es großen Applaus für den glänzend aufgelegten Alleinunterhalter. Franz Xaver Kroetz winkt ins Publikum und verteilt Kusshände. Wenn im Leben immer alles zwei Mal passieren sollte, einmal mit Fehler und einmal danach, dann bitte immer so wie bei dieser Lesung. Wenige Tage später folgt das Danach, die Premiere von „Geschichtn vom Brandner Kaspar“ wird nachgeholt. Mit Schauspiel, Musik und dem ganzen Bühnenzauber, den auch die alten Theatermittel noch immer zu bieten haben.

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