Man müsste vielleicht einmal eine Arbeit schreiben darüber, warum aus dem angeblich finsteren Mittelalter in den Jahrhunderten, die ihm folgten, ausgerechnet Männer zu strahlenden Legenden wurden, die – mit nicht viel mehr als Pfeilen und Freiheitsdrang bewaffnet – aufstanden gegen Besatzer und die korrupte Obrigkeit. Männer, die es nie gegeben hat.
Und die dennoch oder gerade deswegen zum Leitstern wurden für alle radikalen Liberalen. Robin Hood zum Beispiel, der angeblich kreuzzugfahrende Spross des britischen Landadels, den – mit einer anmutigen posttraumatischen Belastungsstörung heimgekehrt aus dem Heiligen Land – die Umstände und die abstruse Regentschaft des Königs Johann Ohneland zum Revoluzzer im Sherwood Forest machten.
So erzählte es jedenfalls Kevin Reynolds‘ Robin-Hood-Hollywood-Epos mit Kevin Costner von 1991. Und es macht einem die Schweiz und die Langsamkeit ihrer cineastischen Selbstbespiegelung natürlich extrem sympathisch, dass erst jetzt und beinahe völlig ohne irgendwelche helvetische Hilfe und Beistand jemand auf die Idee kam, dass Robin Hood (Freiheitskämpfer, Widerständler, Nationbuilder, Pfeileverschießer) und Wilhelm Tell (Freiheitskämpfer, Widerständler, Nationbuilder, Pfeileverschießer) eigentlich Zwillinge im Geiste sind, obwohl sie gut hundert Jahre auseinander gelebt hätten, wären sie mehr als nur eine Legende. Dass man heute von Tell erzählen kann, wie man 1991 von Robin erzählt hat. Man ist schon ein bisschen gerührt.
„Wilhelm Tell“ heißt der Film wenig überraschend. Nick Hamm, Nordire, Regisseur von „Driven“, hat ihn gedreht. Friedrich Schiller kommt vor, aber nicht – das mag bildungsphobe Kreise beruhigen – sehr lang.
Ein Schillersches Motto am Anfang, der Apfelschuss, die hohle Gasse bei Küssnacht, der Schwur. Mehr braucht man nicht an Erinnerung aus der Oberstufe und den gelben Heftchen mit den Tell-Verballhornungen, die damals jeder auf sein Cover kritzelte. Vorher noch das alte Reclam-Ding durchblättern, muss man nicht. Nick Hamm ist an Schiller und der Aufklärung ungefähr so interessiert wie an historischer Wahrheit – also eher gar nicht.
Wir schreiben das Jahr 1307. In Österreich herrscht König Albrecht – wir erzählen das jetzt, wie es in „Wilhelm Tell“ ist und ersparen uns, so gut es geht, fürderhin jedwede historische Korrektur (Albrecht gab es, in der Schweiz wurde er 1308 ermordet, eine lustige Augenklappe, wie sie Ben Kingsley im Film tragen muss, ist nicht überliefert).
Tell ist ein rechter Brüterich
Steuereintreiber ziehen durchs Land wie weiland durch Nottinghamshire und nehmen sich, was Steuereintreiber in Filmen sich immer nehmen – allerlei Naturalien, wozu auch die Frauen der Landbevölkerung zählen.
Eine der Frauen liegt dann irgendwann wie weggeworfen neben dem Badezuber des Steuereintreibers. Da kehrt ihr Mann heim. Anschließend lebt der Habsburgerknecht nicht mehr lange, aber die Unruhen gegen die verhassten Österreicher leben auf. Der Bauer flieht. Wilhelm Tell fährt ihn in mächtigem Sturmgebraus über den Vierwaldstättersee.
Tell ist – weil der dänische Claes Ban ihn spielt – ein normannischer Kleiderschrank. Ein rechter Brüterich, wortkarg, knurrig. Seit seiner Kreuzritterzeit in Palästina hat er genug vom Kriegführen. Die Armbrust legt er nur noch an auf die Tiere in den Südtiroler Bergen, die im „Tell“ sehr famos und sehr schweizerisch aussehen.
Ansonsten möchte er eigentlich nur mit seinem Patchwork, mit der Frau, die ihm aus dem Heiligen Land samt deren Sohn in die Schweiz gefolgt ist, so glücklich werden, wie es mit der handfesten posttraumatischen Belastungsstörung, die er sich in Jerusalem geholt hat, eben geht.
Das wäre natürlich ein eher beschaulicher Film geworden, und die Schweiz hätte es vielleicht nicht gegeben. So wird Tell, weil er dem Bauern geholfen hat, zum Highlander wider Willen (Mel Gibson als William Wallace, den es tatsächlich gegeben hat und der just 1305 hingerichtet wurde, ist natürlich auch eine Referenzfigur für den Apfelschützen von Altdorf im Kanton Uri).
Spätestens, als der Plot sich selbst wieder einholt, der mit dem Apfelschuss begonnen hatte, dann aber drei Tage zurückgesprungen war, geht Nick Hamms „Tell“ auf relativ ausgelatschten Pfaden ziemlich geradlinig dem Gipfel des spätmittelalterlichen Nationbuildings auf dem Rütli entgegen.
Die friedvollen Schweizer entdecken unter Schmerzen die Wehrhaftigkeit in sich und dass man mit Diktatoren wie Albrecht nicht verhandeln kann. „Tell“ verzichtet auf alle mystischen Spökenkiekereien, auf die im vergangenen Jahr noch „Hagen“, die Neuerfindung der Nibelungensage, gesetzt hatte. Und ist – möglicherweise eher zufällig angesichts des ewig langen Produktionsvorlaufs – wahnsinnig aktuell.
Dass sich am Vierwaldstättersee zwar kaum Schweizer Schauspieler herumtreiben, aber relativ viel offensichtlich aus dem Nahen Osten eingewandertes Personal, ist rechten Postillen schon übel aufgestoßen. Genauso wie die Tatsache, dass die treibende Kraft für den Kampf gegen den angemessen widerlichen Landvogt Gessler (Connor Swindels) und seinen blondierten, offensichtlich genderfluiden Haudrauf Stüssi (Jake Dunn) ausgerechnet die Frauen von Uri, Schwyz und Unterwalden sind – Tells Suna (Golshifteh Farahani) allen voran.
Es wird gern ein hoher Shakespeare-Ton angeschlagen. Immer im richtigen Moment und durchaus ansehnlich wird eifrig Blut vergossen, und das Orchester brüllt dazu in „Game of Thrones“-Manier nach Leibeskräften aus den Lautsprechern. Tell, der seinen maulfaulen Solipsismus spätestens nach dem Apfelschuss überwindet, darf, bevor es in die endgültige Schlacht geht, sogar eine Kabinenansprache halten, von der die Nati, die Schweizer Fußball-Nationalmannschaft, bis ins Halbfinale der kommenden Weltmeisterschaft gepusht würde.
Einen Cliffhanger gibt es auch. „Krieg“ skandieren Österreichs Söldner-Heere. Darauf würden wir jetzt doch lieber verzichten. Auf eine Fortsetzung. Auf Krieg sowieso.
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