Remscheid, eine gründlich heruntergerockte Industriestadt im Bergischen Land, galt bislang nicht als Nabel der Kunstwelt. In diesem Jahr könnte sich das ändern. Der 114.000 Einwohner-Stadt ist eine Art Wunder widerfahren. Einer der bedeutendsten deutschen Gegenwartskünstler, der Fotograf Wolfgang Tillmans, wurde zufällig 1968 dort geboren.

Nun hat er in seiner Heimatstadt eine spektakuläre Ausstellung seiner Bilder kuratiert, die gerade durch ihre verdeckten und offenen biografischen Referenzen einen neuen Blick auf 40 Jahre seines Werkes ermöglicht. 

Tillmans bespielt sonst ganz andere Bühnen. Die Tempel der modernen Kunst. Das Museum of Modern Art in New York überließ dem Turner-Preis-Träger des Jahres 2000 vor zwei Jahren eine ganze Etage für eine Retrospektive, im Juli ist er der letzte Künstler, dem das Centre Pompidou in Paris eine eigene Ausstellung widmet, bevor der Bau für eine mehrjährige Renovierung geschlossen wird.

In Remscheid ist man nun auf die hervorragende Idee gekommen, Tillmans das Haus Cleff zu überlassen, eine ortstypisch vollständig in Schiefer eingedeckte Patriziervilla aus dem 18. Jahrhundert, die das Herzstück des „Deutschen Werkzeugmuseums“ bildet. Der Wohlstand der Stadt wuchs mit dem Aufblühen der Werkzeugindustrie im 19. Jahrhundert. Deren Niedergang im späten 20. Jahrhundert war Menetekel. Das Haus selbst, einst Sitz einer stolzen Kaufmannsfamilie, war von einem seltsamen Ungeziefer namens Totenuhrkäfer befallen, der so heißt, weil er mit seiner Nagerei im Gebälk ein Klopfgeräusch produziert, das nach altem Aberglauben den Tod eines Bewohners ankündigen soll.

Bald zehn Millionen Euro hat die Stadt investiert, um das Haus von Grund auf zu sanieren und zu neuem Leben zu erwecken. Das ist auf beeindruckende Weise gelungen. Das Haus erstrahlt innen in erdigen Rosa-, Blau- und Grün-Tönen, die mit Eichendielen der Wohnräume, den Delfter Fliesen und den Steinböden der ehemaligen Küchen kontrastieren. Kurz wähnt man sich in Goethes Wohnhaus in Weimar, bis die Sprossenfenster der auf einem Hügel gelegenen Barock-Villa den Blick freigeben auf das Regenschiefergrau des Bergischen Landes.

Wolfgang Tillmans hat den Renovierungsprozess eng begleitet, das Haus während der Sanierungsarbeiten immer wieder besucht, dort mehrfach übernachtet, sich mit Materialien, Lichtverhältnissen und Aura des Ortes intensiv befasst. Dabei herausgekommen ist eine ungemein suggestive Hängung, die aus dem Gebäude und dem Tillmans’schen Bildern eine Art Gesamtkunstwerk macht. Der Künstler ankert hier sein Werk biografisch in der provinziellen Heimat und öffnet von dort aus den Blick durch die Sprossenfenster über die bergischen Wälder hinweg hinaus in eine hyperbeschleunigte, globale Wirtschaftswelt mit all ihren Verwerfungen.

Was man in dieser Ausstellung dabei über Tillmans erfährt, ist, dass er weit mehr ist, als der Archivar der Club-, Pop- und Queer-Kultur, als der er in den Neunzigerjahren bekannt wurde, oder der sensible Beobachter von Formen, Materialien und Strukturen, als der er sich später entpuppte, sondern ein eminent politischer, konsequent auf Emanzipation zielender Künstler. Das Grundmotiv dieser Kunst ist eine beinahe altmodische Art von Respekt, vor Materialien und der Natur wie vor den Menschen.

Gleich der erste Raum im Erdgeschoss der Ausstellung überfällt den Besucher mit mehreren Schlüsselwerken seines Œuvres: „Lutz and Alex Sitting in the Trees“ – eins jener Bilder, mit denen Tillmans in den Neunzigern bekannt wurde als Chronist des scheinbar hedonistischen Lebensgefühls jener Zeit.

Zugleich ist es Dokument einer ungewöhnlichen Jugendfreundschaft, die sich zu einer lebenslänglichen Künstlerfreundschaft entwickelte. Denn in dem Baum sitzen halbnackt der Modemacher Lutz Hülle und die Installationskünstlerin Alexandra Bircken, die Tillmans als Schüler auf dem Remscheider Leibniz-Gymnasium kennenlernte. Gleich daneben hängt Tillmans’ Mutter, in der famosen „Domestic Scene“ aus dem Jahr 1992, im Feinrippunterhemd unter einer Trockenhaube, während sie am Schreibtisch des familieneigenen Werkzeughandels die Buchhaltung erledigt. Darüber hängen die Ahnen in Öl. Die Szene ist häuslich vertraut und gespenstisch befremdlich zugleich. Tillmans legt hier ein dialektisches Funktionsprinzip seiner Arbeiten offen, das darin besteht, Vertrautes fremd und Unbekanntes kaum bedrohlich wirken zu lassen.

Der Raum zeigt ein weiteres grobkörniges Schwarz-Weiß-Bild aus dem Jahr 1992: Züge, die damals noch D-Züge waren, am Bahnhof Remscheid-Güldenwerth. In der Nähe dieses Bahnhofs wuchs Tillmans auf. Von hier aus brach er gewissermaßen in die Welt des globalen Pop auf, deren Leitstern in den Neunzigerjahren das Model Kate Moss wurde. Tillmans’ mittlerweile ikonisches Porträt von ihr hängt da recht lässig in einer Raumecke, als handele es sich um ein weiteres Familienmitglied.  

Eine seltsame Zahlenfolge, handschriftlich auf Papier geskribbelt, scheint zunächst nicht recht in das Ensemble zu passen: „1967.68.69 – 1937.38.39 – 1997.98.99“ steht dort. Mit den Jahreszahlen in den Dreier- und Dreißigerschritten betreibt Tillmans ein wenig private Zahlenmystik, ruft die Erfahrungsräume von Generationen auf. Dass er selbst 1968, ganze 23 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, geboren wurde, der Abstand zum eigenen Geburtsjahr jedoch inzwischen deutlich größer ist und rasant weiter wächst, treibt ihn um. Das alles verschlingende Monster Zeit ist ein kaum verstecktes Leitmotiv der Ausstellung.

Tillmans bespielt hier drei Etagen mit 24 Räumen und 120 Wandflächen, auf denen er den Betrachter durch seine Welt führt. Dabei leuchten immer wieder prägende Orte und Momente seiner Jugend auf, die städtische Schule, auf die er ging, die Leseecke der Stadtbibliothek, die Sternwarte, in der er als nerdiger Teenager beobachten lernte. Der Copyshop im Einkaufscenter, auf dem er seine ersten Kopierkunstversuche unternahm. Die in die Jahre gekommenen öffentlichen Kunstwerke, in der Stadt verstreut und meist übersehen. Tillmans’ Blick auf seinen Herkunftsort ist dabei kein verklärend nostalgischer. Er zeigt eine Infrastruktur der alten, unternehmerischen und zugleich tief sozial-demokratischen Bundesrepublik, die zunehmend vom Verschwinden bedroht ist. Deren selbstverständlich großzügiges Bildungsangebot ihm aber einst erlaubte, der Künstler zu werden, der er heute ist.

Auch seine Bilder aus fünf der verbliebenen metallverarbeitenden Betriebe der Stadt atmen diesen Geist der Bedrohtheit und Vergänglichkeit. Wie lange es diese Unternehmen und ihre Jobs noch geben wird, weiß niemand. Mit den Porträts ihrer Mitarbeiter erfindet Tillmans sich als eine Art August Sander des 21. Jahrhunderts noch einmal neu.

Wie die Zukunft zu werden droht, sieht man in der oberen Etage auf Bildern von Datenspeichern im Silicon Valley, Paketlieferunfällen in China oder einem diesigen Werktag in Delhi. Ein Grundschullehrer im kaputtregierten Port-au-Prince bewahrt Würde in Krawatte. Ein Bild weiter sitzt der harmlos bubihaft wirkende, Mangosaft schlürfende OpenAI-CEO Sam Altman. Gleich daneben beantwortet Tillmans mit einem abfotografierten Flipchart die Frage, ob OpenAI sich um ethische Fragen schert: Nein, tut es nicht.

Und doch ist nicht alles düster in Wolfgang Tillmans’ Welt. Ein unscheinbares Bild vom „2. Christopher Street Day in Remscheid“ aus dem Jahr 2024 zeigt, dass Emanzipationsbewegungen gelegentlich ihre Zeit brauchen, um in der Provinz anzukommen. Aber sie kommen an. Tillmans’ Blick auf die Menschheit ist ein zutiefst humanistischer. Und letztlich ein optimistischer.

Im Dachgeschoss des Hauses Cleff zeigt Tillmans ein Video, das er Ende der Achtziger mit dem Vorläufer einer Dashcam im Benz seines Vaters aufgenommen und später vertont hat. Eine halbe Stunde lang kann man da zu Technobeats über Remscheider Hauptverkehrsachsen cruisen. Es ist eine jugendliche Ausbruchsphantasie, die wie die meisten jugendlichen Fluchtversuche nirgendwohin führt. Wolfgang Tillmans indes ist dieser Ausbruch und Aufbruch gelungen. Fast vierzig Jahre später kehrt er als großer Künstler zurück. Wenn die Stadt eine kluge Entscheidung treffen möchte, sollte sie Tillmans bitten, seine Ausstellung im Haus Cleff dauerhaft hängenzulassen. Besser wird es für Remscheid nicht mehr kommen.

Wolfgang Tillmans, „Ausstellung in Remscheid“, Museum Haus Cleff, noch bis zum 4. Januar 2026

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